Der unausweichliche Tag - Roman
immer unmöglich.
Sie sah, wie Raoul sich die Brille aufsetzte, die an einer Kette um seinen Hals hing, und den Riss in der Mauer inspizierte. Er legte die Hand hinein. Nun würde er merken, wie tief er reichte.
»Siehst du?«, rief sie zu ihm hinauf. »Er geht ganz durch.«
Raoul sagte nichts. Er hielt den Kopf jetzt dicht an die Mauer, das Gesicht halb weggedreht, als horchte er auf den Herzschlag des Hauses. Da ging die Tür mit einem Knall auf, und Aramon kam wie ein Terrier herausgestürzt, das Gesicht hochrot von Wein und Wut.
»Lass ihn in Ruhe, Audrun!«, brüllte er.»Lass Raoul in Ruhe!«
Er hätte sie am liebsten mit der flachen Hand weggeklatscht, wie eine Fliege totgeklatscht.
Sie wich vor ihm zurück, so wie sie immer vor ihm zurückwich. Er wusste, er konnte ihr Angst machen, indem er sie berührte. Sie drehte sich um und ging. Rannte beinah.
Sie hielt die Kaffeeschale fest umklammert, für den Fall, dass sie eine Waffe benötigte, für den Fall, dass Aramon ihr folgte. Sie malte sich aus, wie sie ihm die Schale übers Gesicht stülpen würde, so wie sie Spinnen mit einer Tasse fing.
Doch er folgte ihr nicht, und Audrun erreichte ihre Tür – dieses windschiefe Ding, viel zu leicht und instabil, ihre Haustür. Sie ging hinein, schloss und verriegelte die Tür, wusste aber, dass auch der Riegel ziemlich erbärmlich war, nur ein schwaches Stück Metall. Eigentlich waren solche Dinge doch anders gedacht. Türen hatten solide und schwer zu sein. Sie hatten alles fernzuhalten, was einem Schaden zufügen wollte. Und doch hatten sie das nie gekonnt.
Sie setzte sich in ihren Sessel. Irgendwo in der Ferne konnte sie Aramons und Raoul Molezons Stimmen hören. Der Nordwind trug sie zu ihr herüber, der Wind, der manchmal in Audruns Schädel fuhr und sie kalt niederstreckte, unter der aufgehängten Wäsche oder auf dem federnübersäten Boden des Hühnerstalls.
Audrun versuchte, ihren Gedanken eine schönere Richtung zu geben, und dachte an all die wundersamen Heilmittel, die die alte Madame Molezon, Raouls Mutter, in ihrer dunklen Küche zusammengebraut hatte: junge Brombeertriebe, getrocknet und aufgebrüht und mit Honig vermischt, gegen den wunden Hals; Salbeitee gegen Übelkeit; Borretschtee gegen Schock. Doch leider, das musste Audrun sich auch eingestehen, gab es für bestimmte Krankheiten kein Heilmittel. Nichts aus der Küche von Madame Molezon, überhaupt gar nichts hatte Bernadette retten können. In ihren letzten Tagen hatte sie zu Audrun gesagt, ihr Krebs sei wie die Seidenraupen und ihr Körper der Maulbeerbaum. Nichts auf der Welt konnte die Raupen davon abhalten, die Blätter bis auf den allerletzten grünen Rest zu vertilgen.
Und das war der Moment, da alles sich änderte – der Moment, als das allerletzte grüne Blatt verschwunden war.
Mit fünfzehn Jahren wurde Audrun aus der Schule genommen und in eine Unterwäschefabrik in Ruasse zur Arbeit geschickt. Ihr Vater und ihr Bruder blieben zu Hause, kümmerten sich um die Weinstöcke, die Zwiebelbeete, die Obstterrassen und das Gemüse. Sie sorgten für die Tiere und schlachteten sie. Aber Audrun wurde erklärt, sie tauge nicht für Landarbeit und das würde sie auch nie; ihre Pflicht sei es, Geld zu verdienen. Also stieg sie, sechs Tage die Woche, jeden Morgen um sieben in den Bus, der sie vor der Unterwäschefabrik am Rand von Ruasse absetzte, und saß den ganzen Tag lang über eine Nähmaschine gebeugt, nähte Strumpfhalter, Korsetts und Büstenhalter. In ihrer Erinnerung waren all diese seltsam geformten Kleidungsstücke blassrosa, beinah so wie ihre eigene Haut, dort, wo die Sonne nie hinkam.
Ihr Vater befahl ihr, Muster ihrer Arbeit mit nach Hause zu bringen. Serge und Aramon befummelten die rosafarbenen Wäschestücke, schnüffelten daran, dehnten die biegsamen Korsetts in alle Richtungen und zogen an den elastischen Strumpfbändern,so wie man an den Zitzen einer Kuh ziehen würde, und dabei lachten und stöhnten sie und rutschten auf ihren Stühlen herum. Dann sagten sie, Audrun solle die Sachen anziehen, sie vorführen, so tun, als wäre sie ein Mannequin aus einer Zeitschrift. Als sie sich weigerte, zog Serge sie an sich. Er betatschte ihre Brüste, große Brüste, obwohl Audrun erst fünfzehn war. Er flüsterte, ob sie denn nicht einen Büstenhalter für diese wunderschönen Brüste brauche, er würde ihr auch einen kaufen, wenn sie dieses Korsett vorführte …
Sie riss sich von ihm los, sah Aramon, der, in der Ecke
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