Der unausweichliche Tag - Roman
zusammengekrümmt, hochrot vor Verlegenheit und Aufregung, sein Hyänenlachen lachte.
Sie rannte aus dem Haus und lief zum Friedhof, wo Bernadettes toter Körper in seinem steinernen Katafalk lag, oben auf ihre Schwiegereltern gestapelt. Und das war der Moment, da es Audrun zum ersten Mal in ihrem Leben widerfuhr, dieses Gefühl, dass alles um sie herum sich zu etwas Unsinnigem verzerrte … der Wind zu schlagenden Flügeln, das über die Grabsteine schlitternde Sonnenlicht zu schmelzender Butter, die Zypressen zu umstürzenden Gebäuden. Sie schrie laut, aber es war niemand da, der sie hörte. Sie griff in eine Handvoll Erde und spürte, dass sie in ihren Händen wie Brot zerkrümelte.
Audrun schaukelte in ihrem Sessel und erinnerte sich: Das war das erste Mal gewesen.
Vier Tage hintereinander erschien Raoul Molezon jeden Morgen. Er brachte seinen Lehrling Xavier mit. Sie füllten den Riss mit Zement, verputzten alles frisch, verfugten das Mauerwerk um die Fenster neu. Dann taten sie etwas Erstaunliches: Sie strichen die verputzte Mauer in einem leuchtenden Ockergelb.
Morgens im kühlen Schatten wirkte die Mauer nun schlüsselblumenblass; abends in der Sonne funkelte sie wie ein Wasserfall von Ringelblumen. Das Haus hatte keine Ähnlichkeit mehr mit Mas Lunel.
Audrun verbrachte Stunden in ihrem potager und starrte, auf die Grabgabel oder die Hacke gestützt, staunend diese gelbe Erscheinung an. Sie beobachtete, wie Xavier den ausrangierten Fernseher auf Raouls Pick-up lud und den Sand wegschaufelte. Beobachtete, wie Aramon einen Forsythienbusch neben die Haustür pflanzte. Sie stellte fest, dass die Hunde nicht mehr zu hören waren, als hätten die Farbdünste sie betäubt.
Sie sah die Maklerinnen wiederkommen – die Mutter mit der Tochter in den hochhackigen braunen Schuhen. Sie sah Aramon, ausnahmsweise sauber gekleidet, in der ersten Mittagswärme des Jahres mit ihnen zusammenstehen, und sie sah alle drei das neue Gesicht von Mas Lunel anstaunen. Die Maklerinnen begannen Fotos zu machen, eines nach dem anderen, aus der Nähe und von weiter weg. Und Audrun wusste, was ihnen durch den Kopf ging – dass diese Veränderung den Preis für das Haus noch weiter in die Höhe treiben könnte.
Eine halbe Million Euro?
Sie fasste sich ans Herz. Ihr eigenes kleines Haus war innerhalb von vier Wochen für ein paar Tausender gebaut worden. Und es war das einzige Heim, das ihr je gehören würde.
Sie hielt die Maklerinnen auf der Straße an, winkte mit ihren dünnen Armen das Auto herbei. Sie schob ihr Gesicht durch das Wagenfenster.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Aber ich bin Monsieur Lunels Schwester, und in dem Haus habe ich früher gewohnt. Und ich habe gesehen, was dort gemacht wurde. Er hat den Steinmetz gerufen, und jetzt ist der Riss überdeckt, aber er ist immer noch da.«
Die beiden Frauen hatten fast identisch geformte runde Gesichter, die aufgeworfenen Lippen rot angemalt. Die Tochter rauchte. Sie zog tief an einer Mentholzigarette einer teuren Marke und pustete den Rauch aus dem Wagenfenster. Beide starrten Audrun wortlos an.
»Ein bisschen Zement kann nicht verhindern, dass er sich ausdehnt«, fuhr Audrun fort und hielt sich am heißen Metallrahmen des Autos fest. »Die Erde greift an beiden Seiten nach den Steinen. Sie greift immer weiter zu.«
»Hören Sie, Madame«, sagte die Mutter nach einer kurzen Schweigepause. »Ich glaube, wir müssen hier etwas klarstellen. Wir wurden von Ihrem Bruder gebeten, den Verkauf des Hauses zu übernehmen. Das ist alles. Mit einer Familienfehde haben wir wirklich absolut nichts zu tun.«
Familienfehde.
»Ach«, sagte Audrun. »Dann hat er es Ihnen also erzählt? Er hat Ihnen erzählt, wie ich behandelt wurde?«
»Wie Sie behandelt wurden? Nein, nein. Mit Dingen aus der Vergangenheit haben wir nichts zu schaffen. Wir sind als Maklerinnen nur für den Verkauf zuständig.«
»Es überrascht mich nicht, dass er Ihnen nichts erzählt hat. Er tut so, als wäre all dies nie geschehen.«
»Nun, es tut mir leid, aber wir müssen jetzt weiter. Wir haben noch einen Termin, einen sehr dringenden Termin in Anduze.«
»Sie sollten ihn nach dem Riss fragen. Fragen Sie ihn. Er hat Raoul bestellt. Und ich habe gesehen, was Raoul gemacht hat. Ich lüge nicht. Er hat einfach ein bisschen Mörtel in die …«
Aber die beiden hörten sie schon nicht mehr. Die Mutter legte den Gang ein, und Audrun spürte, wie der Wagen sich langsam in Bewegung setzte, sie musste
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