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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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zugeben, aber er, Lloyd, verstand eine verdammte Menge von globalen Märkten. Wieso hatte die Kunst aus Anthony » den Anthony Verey« gemacht, während das Geldscheffeln in der City ihn selbst nie zu » dem Lloyd Palmer« gemacht hatte?
    Schwankend stand Lloyd im Badezimmer. Die toile -Milchmädchen und ihre Liebhaber tanzten alterslos weiter auf derWandbespannung. Die Toilettenschüssel war mit aprikotfarbenem Papier vollgestopft.
    Mittlerweile machte die Zeit jedem aus seiner Generation zu schaffen, sinnierte Lloyd weiter. Sogar Benita, deren herrliche Oberarme ihre Festigkeit und ihren Schimmer verloren hatten. Anthony Verey machte sie allerdings auf eine angenehm existentielle Weise zu schaffen.
     
    Während Anthony allein in Lloyds Speisezimmer saß, merkte er, dass seine Zigarre ausgegangen war. Das umständliche Zeremoniell des Wiederanzündens erschien ihm im Moment absolut undenkbar, weshalb er sie in den schweren gläsernen Aschenbecher legte, sich still zurücklehnte und einfach nur den Raum in all seiner Opulenz und Herrlichkeit anstarrte.
    Verschwommen erkannte er sein eigenes Gesicht in dem Kamingesims aus vergoldetem Holz (»Zweites Viertel 19. Jh., Rahmen mit geschnitzten Blumen und Rankwerk und asymmetrisch geschnitzter Wappenkartusche«) und stellte fest, dass dieses Gesicht fahl wirkte, ziemlich unscheinbar , zerknitterter als sonst. Er hörte sich seufzen. Er wollte nicht unscheinbar und zerknittert aussehen, wo Lloyd so groß und so laut war, seine Haut so rosa und glänzend, der Kragen seines Hemds so schön gestärkt und makellos …
    Und jetzt dämmerte Anthony ein weiterer Grund seiner Bestürzung: Wieso in aller Welt – um Gottes willen – erzählte er Lloyd Palmer die Geschichte vom Baumhaus? Dieses ganze Baumhausding war Privatsache. Etwas zwischen ihm und Lal. Ausschließlich zwischen ihnen beiden. Wieso platzte er dann plötzlich gegenüber einem Banausen wie Lloyd mit etwas derart Persönlichem und Kostbarem heraus? Was war bloß in ihn gefahren?
    Schaudernd stellte er fest, dass er lächerlich betrunken war. Vielleicht gehörte dieses Gesicht in dem Kaminaufsatz gar nicht wirklich ihm. Für ein ungeübtes Auge war es einfach ein… Hinweis darauf, wie er aussehen könnte. Und zwar für jemanden, der ihn eigentlich nicht kannte … Und ab morgen würde es verschwunden sein, dieses Gesicht, das niemand kannte. Denn er, er würde weit weg in Frankreich sein, in dieser anderen Art von Licht, bei Veronica, bei seiner geliebten Schwester V …
    Aber er wusste, dass es dumm von ihm gewesen war, sich zu betrinken. Es bedeutete, er würde mit einem Kater in Avignon ankommen. Genau zu dem Zeitpunkt, wo er die Dinge klar und deutlich zu sehen hoffte, müsste er mit Kopfschmerzen und einem benebelten Verstand kämpfen. Und Vs Freundin, diese plumpe kleine Kitty-Frau – mit ihren Aquarell-Klecksereien und der schockierenden Eigenart, laut zu sagen, was sie dachte –, würde sehr genau wissen, wie ihm zumute war, und ihn auch wissen lassen, dass sie es wusste, und ihm die ersten vierundzwanzig Stunden zur Hölle machen.
    O Gott, warum war alles so beschmutzt und verpestet, so infiziert von Elend und Kompromiss? Anthony schob ein paar Gegenstände neben seiner Platzdecke beiseite, die keine Platzdecke, sondern ein riesiges vergoldetes Pappmachétablett war, und bettete seinen Kopf auf das Tablett, fast wie ein verstoßener Engel, dachte er, der auf seinen eigenen unbequemen Heiligenschein gefallen ist.
    Er schloss die Augen. Das Haus wirkte still, als wäre Lloyd gegangen, nicht zur Toilette, wie Anthony gedacht hatte, sondern zu Bett, weil er genug von ihm hatte, genug davon, der ganzen Chose auf den Grund zu gehen, wusste er doch, dass der Kern einer Sache – der eigentliche Kern – irgendwo in unerreichbarer Ferne lag und letztlich nicht zu ändern war.
    Doch das war okay. Lloyd hätte es ohnehin nicht verstanden, aber es gab auch bestimmte Dinge, die man gar nicht ändern wollte . Vielmehr musste man sie innerlich stets von neuem Revue passieren lassen, um sich zu vergewissern, dass sie noch dieselben waren, sich getreulich an die Vorstellung hielten, die man von ihnen hatte. Nicht unbedingt dem getreu, was sie tatsächlich gewesen waren – das ließ sich ohnehin nicht nachprüfen –, sondern getreu dem Bild, das man von ihnen hatte. Darum ging es: Man musste sie schützen vor den Veränderungen durch die Zeit.
    Er hatte alles perfekt vorbereitet. Alles. Ein weißes Leinentischtuch

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