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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Künsten? – brachte Erfolg Erfolg hervor, und Scheitern prügelte einen ins nächste Scheitern. Sie könnte also aus den gelungenen Mimosen Kapital schlagen und sich vielleicht doch noch einmal an den Olivenhain wagen. Sie würde so schrecklich gern dieses ständige unruhig flirrende Zittern in jenem besonders schönen Teil des Grundstücks einfangen, doch alle bisherigen Versuche waren gescheitert. Die Oliven sahen bei ihr stachelig aus, was sie nichtwaren; das erstaunliche silbrige Grün der Blätter hatte sich ihren unkundigen Händen entzogen; die knotigen Baumstämme hatten wie Hundehaufen ausgesehen.
    Ihre Unfähigkeit beschämte sie; Kittys Optimismus war verflogen. Warum waren diese Bäume so schwierig? Vielleicht, weil jeder Baum (alle zwei Jahre von Veronica fachmännisch beschnitten) tief in seinem Innern ein Quantum Luft und Himmel hütete, und eben dieses innere Leuchten, dieses notwendige Attribut, hatte jedem von Kittys Bildern gänzlich gefehlt. Ehrfürchtig hatte sie die Lücken im graugrünen Laubwerk zu malen versucht, aber irgendwie schob sich immer der Himmel durch die Lücken, lauter alberne Flecken aus kompaktem Blau, die wie von außen aufgeklebt wirkten, was zu einem erschreckend schlechten Gesamtresultat führte.
    »Mist«, sagte Kitty laut. »Ausgemachter Mist.«
    Seufzend entschied sie, dass es eindeutig nicht der geeignete Moment für einen erneuten Olivenversuch war. In wenigen Stunden würde Anthony hier sein, und bei der Vorstellung, sie müsste unter seinen taxierenden Augen etwas so schwer Darstellbares malen, wurde Kitty Meadows ganz schlecht.
    Stattdessen machte sie sich etwas ziellos und trödelig daran, ihr Atelier aufzuräumen. Sie spitzte sämtliche Bleistifte. Sie wusch ihre Pinsel ein weiteres Mal und arrangierte sie neu in den vertrauten beklecksten Gläsern. Sie scheuerte ihr Waschbecken, fegte die Spinnweben von den Steinwänden. Unruhig trieben ihre Gedanken derweil von der Gegenwart in die Vergangenheit. Und schon bald war sie im Geiste wieder jene bescheidene, untalentierte Handwerkerin, für die sie sich in irgendeiner Seelenecke auch tatsächlich hielt.
    Sie sammelte alle missglückten Bilder vom Olivenhain zusammen, riss sie in kleine Fetzen und warf die Schnipsel in die blaue Recyclingtonne. Hitze überkam sie, und sie fühlte sich gequält von Wechseljahrdepressionen und von Versagenskummer. Wurde wieder zu der schüchternen Bibliothekarsgehilfin, dieihren Bücherkarren von Stahlregal zu Stahlregal rollte, während sich draußen die Nachmittagsdämmerung über Cromer senkte.
     
    Es wurde schon dunkel, als Anthony in Avignon aus dem TGV stieg und seine Koffer wie zwei gehorsame schwarze Hunde hinter sich her zu der Autovermietung zog.
    Er hatte im Zug geschlafen, hatte seinen Kater fast weggeschlafen, während die Wälder und Täler und Industriegebiete Frankreichs ungesehen vorbeisausten. Ein Jammer, dachte er jetzt, dass er Frankreich verpasst hatte – fast das gesamte Land, von Norden bis Süden. Aber so etwas passierte, wenn man trank: Man verpasste die Dinge. In seinem Delirium versuchte man, irgendwelche großartigen Ideen anzupeilen, und dann verpasste man sie.
    Aber nun, da er den Bahnhof hinter sich ließ, reckte er das Gesicht, hielt es in die köstliche Luft. Pinien und Sternenlicht, helle und dunkle und reine Dinge – all das roch er in der Luft. Zwischen den Reihen geparkter Mietwagen stellte Anthony die Koffer ab. Er blieb stehen.
    Das habe ich ganz vergessen, dachte er: dieses Gefühl von Ankommen, wenn einem die Seele weit wird.
    Er sah, wie dunkle, drohende Wolken sich über dem perlmuttfarbenen Horizont türmten. Und er spürte, wie die letzten Reste seines Katers sich verflüchtigten.
    »Das Alter«, hatte ein Schauspielerfreund einmal gesagt, »kommt in kurzen Schüben. Und zwischen den Schüben gibt es so etwas wie eine Verschnaufpause.« Und eben das war ihm jetzt geschenkt worden, spürte Anthony: eine Verschnaufpause. Er hätte sogar »Aufschub« dazu sagen können. Und deshalb ermahnte er sich, diese Phase des Aufschubs nicht zu vergeuden oder sie mit Verdrossenheit zu besudeln. Er würde ein angenehmer Gast im Haus seiner Schwester sein. Er würde ihren Garten bejubeln, mit ihren französischen Freunden Pastis trinken, sich ihrem Tagesablauf anpassen. Und er würde – jedenfalls, solange sie ihn nicht beleidigte – nett zu Kitty Meadows sein.
    Während Anthony in dem gemieteten schwarzen Renault Scenic nach Nordwesten in Richtung

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