Der unausweichliche Tag - Roman
Anthony. Er hatte von seiner Stubenhockerei eine blasse, schuppige Haut. Er näherte sich Kitty mit einem Lächeln, das seine Augen schmal und seine Wangen faltig machte – immerhin war er im siebten Jahrzehnt –, mit dem er aber, wie Kitty vermutete, wenn er wollte, immer noch verführen konnte.
Er gab ihr einen flüchtigen Kuss, mit einem winzigen Hauch mäkeliger Verachtung. Er roch nach Eisenbahn, nach Dingen, die zu lange in abgestandener Luft eingesperrt sind, und Kitty hatte die verrückte Idee, Anthony müsste mal mit Salzwasser abgespritzt, mit Eis und Sand gerubbelt werden, damit seine Haut wieder durchblutet würde und er wieder in der realen Welt landete.
Anthony stand vorm Kamin und bewunderte die neuen Läufer und Kissen, die sie in Uzès gekauft hatten. Veronica schenkte Champagner ein, reichte ihre selbstgemachte Olivenpaste herum. Er sagte, er sei froh, hier zu sein. Er sagte: »Was ich so gerne höre, ist die Stille.«
V ierhundertfünfzigtausend Euro.
Der Gedanke an diese Summe quälte sie. Hatte sie tatsächlich solch eine schockierend große Zahl in Aramons Handfläche gelesen? Oder trieb die Zahl nur, als aufgereihte Ziffernfolge, die mit nichts verbunden war, in der verwirrten grauen Masse ihres Hirns?
Sie fragte ihn noch einmal: »Was haben sie gesagt? Wieviel sollst du für das Haus bekommen?«
Aber diesmal wollte er nicht damit herausrücken. Er zog den Rotz hoch, spuckte ein paar Tabakfäden aus und sagte: »Das Haus gehört mir. Mehr weiß ich nicht. Jeder Euro daraus gehört mir.«
Jetzt hatte Audrun die Gardinen einen halben Zentimeter beiseite gezogen und beobachtete von ihrem Fenster aus die Ankunft der Leute, die das Haus besichtigen wollten. Sie blieben davor stehen und sahen hoch zu dem Riss in der Mauer. Sie gingen vorsichtig um den Sandhaufen und den verrotteten, urinfleckigen Fernseher herum. Sie warfen einen Blick zurück, um die Aussicht nach Osten zu prüfen, wozu auch ihre Kate, das Gemüsegärtchen, die kreuz und quer gespannten Schnüre mit den Lumpen als Vogelscheuchen und ihre Wäscheleine gehörten, an der Aramons zerfledderte Sachen hingen. Im Zwinger bellten sich die Hunde beim Geruch der Besucher halb um den Verstand. Dann fuhren die Leute wieder weg.
Raoul Molezon, der Steinmetz, erschien.
Audrun eilte mit einer Schale Kaffee nach draußen und fragte Raoul: »Stimmt das mit den vierhundertfünfzigtausend?«
»Ich habe keine Ahnung, Audrun«, sagte Raoul. »Ich bin nur gekommen, um den Riss zu reparieren.«
Sie erklärte ihm, der Riss gehe durchs ganze Haus, spalte es von oben bis unten, weil dort, wo die zwei Flügel von Mas Lunel gestanden hätten, jetzt nur noch Luft sei. Sie sagte: »Die Erde holt sich die Steinmauern, Raoul. Du bist ein Maurer, ich weiß, du verstehst das Problem. Wenn sie nicht gestützt werden, so wie früher, holt die Erde sie zurück. Ich bin sicher, meine Mutter wusste das.«
Raoul nickte. Er war stets freundlich zu Audrun. War sein Leben lang freundlich zu ihr gewesen. »Du könntest Recht haben«, sagte er. »Aber was soll ich machen?«
Raoul trank den letzten Rest Kaffee und reichte ihr die Schale zurück. Er wischte sich den Mund mit einem alten, hellroten Taschentuch ab und ging daran, seine Leitern aufzustellen und sie mit etlichen Schaufeln Sand gegen das Verrutschen zu sichern. In seinem Pick-up lagen Zementsäcke. Da begriff Audrun Aramons Plan: Raoul hatte den Auftrag, den Riss mit Mörtel zu füllen und ihn dann mit einer Schicht grauem Verputz abzudecken, damit potentielle Käufer nichts von einem Spalt in der Mauer merkten – damit sie gar nicht erst auf die Idee kamen, da könnte etwas sein. Sie drückte die leere Kaffeeschale an die Brust und sagte: »Weißt du was, Raoul, diese Mauer muss mit einer Eisenklammer zusammengehalten werden …«
Er war schon halb die Leiter hinauf, behände, geschickt und ohne Angst vorm Fallen, selbst mit seinen sechsundsechzig noch. Vor langer Zeit hätte Audrun sich in Raoul Molezon verlieben können. Wenn Bernadette nicht gestorben wäre, wenn ihr ganzes Leben anders gewesen wäre. Sie starrte auf seine braunen Beine in den staubigen Shorts. Früher hatte sie, wenn sie Raoul beobachtete, häufig gedacht: Man könnte sich in einen Mann nur wegen seiner Beine verlieben, weil es so schön ist, sie zu streicheln, so wie man den weichen Hals einer Ziege streichelt. Aber das war zu einer Zeit gewesen, als die Liebe zu Männern für sie noch nicht unmöglich geworden war … für
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