Der unausweichliche Tag - Roman
ein oder zwei Schritte mit ihm mithüpfen, mitspringen, dann den Kopf aus dem Fenster ziehen und zusehen, wie er davonfuhr.
E ine Woche nach seiner Ankunft – er hackte gerade winzige Unkrautpflänzchen aus Veronicas ansonsten makellos bekiestem Vorplatz – bemerkte Anthony plötzlich sein eigenes Spiegelbild in einem Terrassentürflügel und fand, dass er ohne die von der südlichen Sonne weggezauberte Londoner Blässe viel jugendlicher aussah.
Während er sein verwandeltes Ich bewunderte, schoss ihm plötzlich ein neuer Gedanke durch den Kopf:
Ich könnte wieder lieben. Nach alledem könnte ich, vielleicht …
Anthony richtete sich auf und hielt sein Gesicht in den Himmel.
Sogar eine Frau lieben? Warum nicht? Er hatte seine Exfrau Caroline auf eine sehr kameradschaftliche Weise geliebt. Warum sollte er nicht, für zehn oder fünfzehn weitere Jahre, ein angenehmes, aber einfaches Leben mit einer attraktiven, aber anspruchslosen Frau führen und dabei Frieden finden …
… aber dann gab es in diesem Teil Frankreichs ja auch all die braungebrannten, dunkelhaarigen Knaben, und bei dem Gedanken an sie und daran, wie sie in den heißen Nächten mit ihm auf Französisch flüstern würden, bekam er schon jetzt eine vorauseilende, aber gar nicht einmal unwillkommene Erektion.
Mit neuer Energie machte er sich wieder an die Arbeit, fest entschlossen, auch die letzte Unkrautwurzel im Vorplatz auszurotten. Gefreut hatte er sich nicht gerade auf die Gartenarbeit, doch jetzt merkte er, wie sein Kopf dabei auf wundersame Weise Ruhe fand, eine Ruhe, die wieder Hoffnung keimen ließ, so wie die Sonne sich hinter einer Wolke hervorschiebt.
»Dir ist doch sicherlich klar, dass du mich gerettet hast«, sagte er an diesem Abend zu Veronica, während sie im Salon gut gekühlten Wein tranken.
»Wie meinst du das?«, fragte sie.
»London bringt mich um, V. Und zwar buchstäblich. Seit ich hier bin, denke ich sehr viel darüber nach, und jetzt habe ich eine endgültige Entscheidung getroffen. Ich werde alles verkaufen. Das hätte ich schon vor zwei oder drei Jahren tun sollen. Frankreich wird der Ort meiner Wiedergeburt sein.«
Und noch während er das sagte, suchte und fand und genoss er den kurzen Ausdruck des Entsetzens in Kitty Meadows’ Augen. Welch ein beredtes Entsetzen.
»Keine Sorge«, sagte Anthony und lächelte sie entspannt an. »Ich werde mich nicht auf eurer Türschwelle niederlassen. So taktlos bin ich nicht. Ich werde mich weiter im Süden nach einem Haus umschauen – in der Nähe von Uzès wahrscheinlich. Solange es eine schöne Aussicht und genügend Platz für meine Lieblinge hat. Alles andere ist unwichtig.«
Veronica stand auf, ging zu Anthony und legte ihm die Arme um den Hals. »Lieber«, sagte sie, »das halte ich für eine wunderbare Idee. Einfach großartig und mutig und brillant! Darauf stoßen wir an! Wir werden dir helfen, das perfekte Haus zu finden.«
Kitty saß regungslos in ihrem Sessel. Sie faltete ihre kleinen Hände im Schoß.
Anthony rief Lloyd Palmer an. Er begann das Gespräch damit, dass er sich für die betrunkene Nacht in Lloyds Haus entschuldigte.
»Das ist okay«, sagte Lloyd. »Immerhin hast du dich nicht übergeben. Wie ist Frankreich?«
»Hör zu«, sagte Anthony, »ich habe so eine Art Erleuchtung gehabt. Es würde zu weit führen, alles zu erklären, aber ich glaube, ich werde hier unten ein Haus kaufen.«
»Ein Baumhaus?«, meinte Lloyd und kicherte kurz.
»Also gut, der Punkt geht an dich , Lloyd. Aber weswegen ich eigentlich anrufe: Es könnte sein, dass ich dich bitte, demnächst einige meiner Aktien zu verkaufen …«
»Aktien verkaufen ? Habe ich gerade richtig gehört?«
»Ja.«
»Bist du von deinem verdammten Baum gefallen? Das würde ich nicht übers Herz bringen, alter Junge. Hast du in letzter Zeit mal die Aktienkurse gecheckt? Ich könnte das nicht . Nicht mal für dich.«
»Wenn ich ein Haus finde, muss ich in der Lage sein, schnell zu handeln, Lloyd. Wenn man hier Immobilien kauft, kann man nicht rumtrödeln. Man muss verbindliche Zusagen machen.«
»Nimm doch Bargeld.«
»Ich habe kein Bargeld. Alles, was ich jenseits der Aktien habe, sind Schulden.«
Das böse Wort Schulden brachte Lloyd Palmer zum Verstummen.
»Ich bin schockiert«, sagte er schließlich. »Was ist passiert?«
»Realität ist passiert. Zeit ist passiert. Und ein Wohnungsverkauf würde viel zu lange brauchen, deshalb …«
»Die Wohnung verkaufen ? Ich kann gar nicht
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