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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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liebe, werde dies zu ernsten Schwierigkeiten für alle führen.
    Sie wusste, dass Kitty geweint hatte, und das ärgerte sie. Immer wenn sie daran dachte, wo Kitty herkam, wenn sie sich bestimmte quälende Bilder vor Augen rief – zum Beispiel, wieKitty im Gästehaus von Cromer die Frühstückstische deckte, wie sie die ärmliche Kundschaft bediente und dafür mit sehr knauserigen Trinkgeldern bedacht wurde, wie sie sich später bei ihrem mageren Job in der Bibliothek abmühte –, dann brach ihr fast das Herz. Sie wünschte, sie hätte Kitty eine andere Vergangenheit bescheren können. Aber die Vergangenheit war Vergangenheit. Sie war nicht zu ändern. Und daran hatte sie Kitty im Auto erinnert: »Du hast deine Vergangenheit, und ich habe meine, und zu meiner gehört Anthony, und ich werde ihn niemals wegstoßen. Nicht für dich. Nicht für irgendwen. Niemals.«
    Niemals .
    Sie sah, dass das Wort seine Wirkung nicht verfehlte. Und wusste, dass Kitty immer noch nicht begriff, wie stark Veronicas Bedürfnis war, Anthony zu schützen – vor der Welt und vor sich selbst. Also erklärte sie ihr alles noch einmal von vorn: wie Raymond Verey, ihr blendend aussehender Vater, den die beiden Kinder nur selten zu Gesicht bekamen, seinen Sohn gequält hatte, ihn ein schwaches, mickriges Baby nannte und immer wieder fragte, wann er denn »ein richtiger Junge werden« würde. Lal, die nicht gegen ihn aufzubegehren wagte, stand meist stumm daneben, aber sie, Veronica, hatte es übernommen, für ihren Bruder Partei zu ergreifen.
    »Ich hasste meinen Vater dafür, dass er Anthony quälte«, sagte Veronica. »Es war nicht Anthonys Schuld, dass er nicht sportlich und kräftig war. Ich war so, aber er eben nicht. Er war mager und verträumt. Er werkelte gern mit Mama zusammen im Haus herum.«
    Veronica konnte sich noch sehr gut an Anthonys geradezu besessene Liebe zu Lal erinnern. Auch davor habe sie ihn schützen müssen, erklärte sie Kitty. An manchen Tagen war er an den Kränkungen fast zugrunde gegangen, und dann musste sie ihn vor seinen eigenen Gefühlen schützen.
    »Und du?«, fragte Kitty. »Wer hat dich vor der Welt und den Menschen geschützt?«
    »Ich habe dir doch gesagt: mir ging es gut«, erwiderte Veronica. »Ich war gegen vieles immun. Und ich hatte mein Pony Susan. Ich habe mit Susan geredet. Ich bin mit ihr durch die Gegend geprescht, und dabei habe ich alles vergessen. Es ging mir prima. Aber Anthony starb, wenn Mama ihn zurückwies.«
    Sie musste wieder an eine dieser Situationen denken. Es war Anthonys elfter oder zwölfter Geburtstag, und Lal war mit ihnen zu einem Geburtstagspicknick an den Strand von Swanage gefahren. Sie waren nur zu dritt. Raymond war wie gewöhnlich in London, wo er sein eigenes fernes Leben lebte. Es war Hochsommer, die Sonne brannte vom Himmel, das Meer war ruhig und blau. Und das Picknick, das Lal vorbereitet hatte, schmeckte köstlich. Sie vertilgten alles bis auf den Geburtstagskuchen, den sie für später aufsparten, und dann gingen sie schwimmen.
    Lal, elegant wie immer, trug einen sehr engen, lindgrünen Badeanzug mit Reißverschluss. Und als sie diesen Badeanzug nach dem Schwimmen auszuziehen versuchte, klemmte der Reißverschluss, und da stand sie nun – der Wind hatte aufgefrischt, der Himmel sich bezogen – und wurde langsam ärgerlich, da sie fror. Sie riss und zerrte vergeblich an dem Verschluss und versuchte dann, sich so aus dem Anzug zu winden, aber er saß zu eng.
    Anthony sprang hektisch im Sand herum, das Gesicht ganz weiß vor Entsetzen. Er gab Lal sein Handtuch, aber sie warf es weg und sagte: »Sei doch nicht albern, Anthony. Das Ding ist klatschnass.« Sie warf ihm die Autoschlüssel zu und schickte ihn in seiner schlotternden Badehose über die Dünen. Er sollte ihr eine Kneifzange aus dem Werkzeugkasten holen. Keuchend kam er mit dem ganzen Kasten zurück, und Lal hob ungeduldig ihren schönen braunen Arm, während er in dem Durcheinander von Kleinteilen und Schraubenschlüsseln nach der Zange suchte, sie endlich fand, den Reißverschluss oben fest zusammenpresste und zu ziehen versuchte.
    Aber der Verschluss rührte sich nicht. Inzwischen war Lalschon ziemlich blau vor Kälte und zitterte am ganzen Körper. »Los!«, schrie sie ein ums andere Mal. »Los, mach, Anthony! Um Himmels willen, mach ihn endlich auf ! Siehst du denn nicht, dass ich mich zu Tode friere?«
    Er fror ebenfalls, und seine Hände zitterten. Und dann kniff er aus Versehen mit der Zange in das

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