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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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lange in dieser unbequemen Umarmung.
    »Mir tut es auch leid«, sagte Veronica schließlich.
    »Komm ins Bett«, flüsterte Kitty. »Ohne dich liege ich so schrecklich ungern darin.«

J edes Mal, wenn sich jetzt ein Auto näherte, dachte Audrun, es sei der Landvermesser. »Er kann jeden Tag kommen«, hatte Aramon ihr erklärt. »Und dann werden wir sehen, wie viel du dir von meinem Land genommen hast! Dann wissen wir es endlich, ha!«
    Sie stand am Fenster und wartete.
    Eines Morgens sah sie, wie Aramon sehr früh das Haus verließ. Gebeugt von dem schweren Metallkanister mit Unkraut-Ex, den er sich auf den Rücken geschnallt hatte, ging er zu den vernachlässigten Weinterrassen. Die Maklerinnen hatten ihm geraten, die Terrassen in Ordnung zu bringen, da man die Sorte Käufer, die sich für das Mas Lunel interessiere, noch zusätzlich mit der Vorstellung vom eigenen Weinanbau locken könne. »Ich sehe das nicht so«, hatte er verächtlich zu Audrun gesagt. »Rechthaberische Immobilien-Fotzen. Haben keine Ahnung von Wein! Aber ich weiß Bescheid. Ich weiß, wie das den Rücken kaputtmacht. Kein fauler belgischer oder englischer Städter würde doch die Arbeit schaffen. Mir egal! Ich tu, was die sagen. Für 475 000 bin ich fügsam wie eine Hure.«
    Audrun folgte ihm unbemerkt zu den Terrassen. Sie starrte auf die endlos vielen Reihen mit Rebstöcken, allesamt nicht zurückgeschnitten und durch Gestrüpp vom vergangenen Jahr verschandelt, starrte auf die steinige Erde, die die Pflanzen eigentlich nähren sollte und von Gras und Unkraut erstickt wurde. Im Schatten eines Stechpalmengebüschs beobachtete sie Aramon, der mit seiner Gartenschere halbherzig an ein paar Ablegern herumschnibbelte, dann mittendrin abbrach und sich eine Zigarette ansteckte. Er stand da und rauchte, und mit glasigem Blick sah er sich in der hellen Sonne nervös nach allen Seiten hin um, während der Kanister mit dem Unkrautmittel vergessen im hohen Gras lag.
    Audrun fixierte ihn mit harten, zusammengekniffenen Augen. Sie überlegte, wie er am besten zu töten sei.
     
    Sie ging hinauf zum Mas Lunel und suchte nach seinem Testament.
    Er hatte nie geheiratet, nie Kinder gezeugt, weshalb alles ihr gehören würde, wenn er vor ihr starb, sofern er nicht auf die Idee gekommen war, einen Teil des Erbes einem alten Jägerfreund zu vermachen. Sie bezweifelte zwar, dass er das fertiggebracht und tatsächlich die dafür notwendigen lästigen Gänge zu einem Notar erledigt hatte, aber sie musste Gewissheit haben. Wenn er, nur um sie zu ärgern, ein neues Testament hätte aufsetzen lassen, läge irgendwo eine Kopie versteckt.
    Als Erstes nahm sie sich eine alte Mahagonitruhe im Salon vor, dem schönsten Raum im Mas. Aramon hielt sich jedoch selten hier auf, fast als spürte er, dass dieses Zimmer zu nobel für ihn war – für die Person, die er im Grunde war.
    In dieser Truhe hatte Bernadette die Familienbibel aufbewahrt. Und über all die Jahre hinweg hatte diese Bibel mit ihrer heiligen magnetischen Kraft sämtliche Dinge angezogen, die wichtig im bürokratischen oder kostbar im sentimentalen Sinne waren. Wie zum Beispiel die Briefe, die Serge während des Kriegs geschrieben hatte – anfangs aus den Ardennen und später aus dem Elsass, wohin er nach Frankreichs Kapitulation geschickt worden war. Später folgten die Briefe aus der Zeit, in der er für den Service de Travail Obligatoire in Ruasse gearbeitet hatte.
    Es gab dicke Stapel dieser Briefe in Serges unordentlicher Handschrift, alle seit Jahren ungelesen. Außerdem gab es alte Personalausweise, Kaufverträge mit der Wein-Kooperative, Einladungen zu Hochzeiten, zu Taufen und zur Erstkommunion, Trauerkarten, Familienfotos, Zeitungsausschnitte, Beileidsschreiben, Bürgermeistererlasse, eine vergilbte Speisekarte aus einem billigen Pariser Restaurant in Les Halles … Und all diese Dinge hatten die Nähe des Evangeliums gesucht.
    Audrun öffnete die Truhe und nahm die Bibel heraus. Sie hielt sie sich für einen Moment ans Gesicht, sog den Duft ihrer Mutter ein, mit dem der Leineneinband – selbst jetzt noch – imprägniert war, und legte sie beiseite. Sie starrte auf den Wust von Papieren unter der dünnen Schicht Holzwurmmehl, feiner als feinster Sand. Dieser Staub verriet ihr, dass die Papiere seit langem nicht mehr angerührt worden waren. Also schaute Aramon nicht in die Vergangenheit. Kein Wunder. Er hatte Angst, sich selbst darin zu entdecken.
    Audrun nahm sich einen Armvoll Briefe, Karten

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