Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
weiche, weiße Fleisch unter Lals Achsel, und sie kreischte laut auf und stieß Anthony weg, und er fiel rückwärts in den Sand und brach in Schluchzen aus.
    Eigentlich hatte er von morgens bis abends nichts anderes im Sinn, als ihr zu gefallen, und jetzt, wo sie ein Problem hatte, wo sie ihn wirklich einmal brauchte, schaffte er es, ihr wehzutun.
    »Er ertrug es einfach nicht, dass er das getan hatte«, sagte Veronica. »Es hat ihn traumatisiert. Lal wehtun! So sehr, dass sie geblutet hat! Das war das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte.«
    »Und du? Was hast du gemacht?«, fragte Kitty ruhig.
    »Na ja, ich glaube, ich habe mein Taschentuch auf Mamas Wunde gelegt und gesagt, sie soll fest draufdrücken, oder irgendetwas Ähnliches, und dann habe ich versucht, sie beide warm zu bekommen. Ich holte die Decke aus dem Wagen, und sie mussten sich dicht nebeneinander draufsetzen, und ich habe sie eingewickelt. Anthony klebte buchstäblich an Mama und weinte, und ich sagte: ›So ist es gut, Anthony. Halt sie ganz fest, dass sie warm wird.‹ Dann habe ich mich auf die Suche nach einer Schere gemacht. Es dauerte ewig, aber schließlich fand ich eine nette Frau, die in ihrem Strickbeutel auch eine Schere hatte, und sie half mir, Mama aus dem Badeanzug zu schneiden. Wir halfen ihr in ihre Kleider, und sie fuhr uns nach Hause, aber sie weigerte sich, mit uns zu sprechen. Sie fand, die Welt müsste bestraft werden, weil sie in einem lindgrünen Badeanzug festgesteckt hatte.«
    »Lächerlich …«, flüsterte Kitty.
    »Ich weiß«, sagte Veronica. »Aber so war sie eben manchmal. Anthonys Geburtstagskuchen haben wir dann nicht mehr angerührt. Praktischerweise hatte Mama ihn ganz und gar vergessen. Und als Anthony merkte, dass sie keine Kerzen hineinstecken, ihn nicht anschneiden, nichts singen oder sonst irgendwas machen würde, setzte er sich in die Küche, aß fast das ganze Ding alleine auf und übergab sich später im Garten.«
    Als Veronica die Geschichte beendet hatte, schwieg Kitty. Veronica war zwar überzeugt, dass Kitty ihre Mutter einfach nur verwöhnt und schwierig fand, dass sie dachte, das privilegierte Leben in Südafrika habe sie blind für ihr eigenes egoistisches Verhalten werden lassen. Aber sie hoffte trotzdem, diese Anekdote vom Tag in Swanage werde Kitty ein für alle Mal klarmachen, dass ihr Bedürfnis, Anthony zu schützen, etwas war, das sich niemals ändern würde.
    Nach einer Weile sagte Kitty: »Das verstehe ich. Wirklich. Und es ist auch ein Grund, weshalb ich dich liebe. Du bist so lieb und freundlich. Aber trotzdem musst du mir sagen, wie lange Anthony bei uns wohnen wird. Sag es mir einfach.«
    »Das kann ich nicht sagen. Weil ich es nicht weiß. Er möchte sich jetzt nach einem Haus umsehen. Er setzt all seine Hoffnung darauf. Deshalb muss ich ihm helfen!«
    »Natürlich. Aber er muss doch nicht Tag und Nacht mit uns zusammensein. Wieso kann er nicht in ein Hotel gehen?«
    Ärgerlich blickte Veronica weg und klopfte mit der Faust auf das Lenkrad. »Wenn das alles ist, was du dazu sagen kannst, hast du kein Wort von dem begriffen, was ich dir erzählt habe!«
     
    Auf dem Tisch lagen unter Veronicas Gartenskizzen diverse Prospekte der Immobilienmakler in Ruasse. Veronica schob ihre eigenen Zeichnungen beiseite und begann, die Prospekte durchzublättern. Sie sah verblichene Fotos von großen, baufälligen Natursteinhäusern, begleitet von kargen Beschreibungen und hohen Preisen. Es schien, als seien nun auch die Grundeigentümerim Cévenol, genau wie alle anderen Bewohner der westlichen Welt, fest entschlossen, reich zu werden.
    Ihr Blick fiel auf das Foto eines hohen, rechteckigen Mas, das an einem mit Steineichen bewachsenen niedrigen Hügel lehnte. Anders als bei den übrigen Häusern war seine verputzte Fassade in einem weichen Gelb gestrichen, was dem Gebäude etwas unerwartet Herrschaftliches verlieh. Als Preis wurden 475 000 Euro verlangt. Veronica rieb sich die Augen und las die Details: sechs Schlafzimmer, großer Dachboden, gute Balkensubstanz, hohe Decken …
    Ein Geräusch in der Küche ließ sie aufblicken. Dort stand Kitty in der unförmigen, verwaschenen Jacke, die ihr als Morgenmantel diente.
    Kitty kam zu ihr, schlang die Arme um Veronicas Schultern, neigte sich nach vorn und legte ihren Kopf auf Veronicas Kopf.
    »Es tut mir leid«, sagte Kitty. »Es tut mir leid.«
    Veronica schob die Häuserprospekte beiseite. Sie streckte die Arme nach Kitty aus, und beide verharrten

Weitere Kostenlose Bücher