Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
und Fotos. Ein Foto von Bernadette rutschte aus dem Haufen, und Audrun schaute in das liebste aller lieben Gesichter – das ihrer Mutter, so wie sie einst ausgesehen hatte, als sie jung war und bei strahlender Sonne in die alte Box-Kamera gelächelt hatte. Wie schön Bernadette gewesen war! Ihr Haar war an der Seite gescheitelt und mit einer Schildpattspange hochgesteckt. Ihre großen Augen blickten schläfrig. Ihre Haut war weich und makellos. Sie trug eine gestreifte Bluse, an die Audrun sich nicht erinnern konnte.
    Audrun steckte das Foto in die Tasche der alten roten Jacke, die sie am Morgen angezogen hatte, und wandte sich wieder der Truhe zu. Auch die übrigen Papiere wirkten unangerührt. Trotzdem war es möglich, dass Aramon ein Testament gemacht hatte und es klammheimlich irgendwo dazwischengeschoben hatte, ganz tief unten in dieses komplizierte mille-feuille , das ein Familienarchiv sein sollte.
    Sie wühlte, prüfte und sichtete, auf der Suche nach einem Dokument, das vermutlich weißer als der Rest wäre und schwärzer im Druck. Doch sie fand nichts. Als sie schließlich ganz unten auf dem Boden angelangt war, stieß sie auf eine Ansichtskarte mit dem Fluss bei Ruasse. Das Wasser war leicht über die Ufer getreten und umspülte die alten Marktstände, die damals dort gestanden hatten, und all die Karrengäule, die geduldig nebeneinander warteten. Der Text, geschrieben von ihrem Vater und datiert auf das Jahr 1944, lautete:
     
    Meine liebe Frau,
ich bete, dass Du in Sicherheit bist und alle in La Callune sicher sind, auch der Junge und das Baby. Meine Arbeit hier ist nicht schwer. Ich bin Teil unserer S.T.O .-Gruppe, die die Lokomotiven nachts vor Sabotage durch die Maquisards schützt. Ich fange an, diese Maschinen zu lieben.
Hast Du den alten Molezon gebeten, den Schornstein zu reparieren? Ist der Junge von seinem Husten geheilt?
Wir arbeiten während der Dunkelheit und schlafen am Tag.
Ich küsse Deine Brust. Serge.
     
    Audrun legte die Karte zurück. Rückte alles wieder so zurecht, wie sie es vorgefunden hatte.
    Ich küsse Deine Brust .
    Sie packte die Bibel weg und schloss die Truhe. Sie wollte nicht über ihren Vater nachdenken.
    Meine liebe Frau, ich küsse Deine Brust …
    Sie stand auf und blickte sich um. Wo konnte sie noch suchen?
    Sie stieg hinauf in Aramons Schlafzimmer. Durch das weit geöffnete Fenster drang frische Luft in den unangenehm stickigen Raum. Audrun kniete sich vor das Bett und fuhr mit den Händen unter die Matratze. Sie zog ein paar Zeitschriften von der Sorte hervor, die sie erwartet hatte, und während Audrun sie betrachtete, dachte sie, dass sein Tod ein richtiger Tod sein müsste, einer, den er verdient hatte. Er dürfte nicht zu schnell sein, und er dürfte nicht schmerzlos sein.
    Audrun schob das pornografische Zeug wieder unter die schwere Matratze und ging um das Bett herum, um die andere Seite zu untersuchen. Dann fiel ihr ein, dass Aramon auf seinem Nachttisch immer Medizinfläschchen und Klarsichtpackungen mit Tabletten aufbewahrte, und die nahm sie sich jetzt vor. Sie kramte nach ihrer Brille und setzte sie auf. Sie betrachtete die adretten Etiketten der diversen Arzneimittel, die sie alle nichtkannte. Aber sie vermutete, dass es sich um Schlaftabletten oder Antidepressiva oder sonst irgendwelche Vergessenspillen handelte.
    Und dann kam sie ins Grübeln … Konnte es etwa so einfach sein? Müsste sie ihn nur betrunkener machen, als er ohnehin meist war, und ihm die Tabletten in den Mund stopfen, oder könnte er sie, fein zerkleinert, mit seinem Wein oder Whiskey sogar freiwillig trinken? Und das Ganze würde als Selbstmord durchgehen?
    Oder, noch besser, sie würde ihn mit dem Gesicht nach unten auf sein Bett legen, seine Klistierutensilien holen und ihm das Gift auf diese Weise in den Körper pumpen. Sie hatte doch in irgendeiner Illustrierten gelesen, dass Marilyn Monroe so gestorben war: Literweise waren ihr die Barbiturate in den Dickdarm geflößt worden. Damals allerdings hatten alle geglaubt, sie habe Tabletten geschluckt, habe sterben wollen, weil ihr Leben unerträglich geworden sei … und erst viele, viele Jahre später war enthüllt worden, dass man keine Hinweise auf eine Überdosis in ihrem Magen gefunden hatte. Nicht die geringste. Aber trotzdem war die Selbstmordthese bestätigt worden.
    Audrun stellte sich die beiden Szenen vor, Marilyns Tod: vergangen und vorbei, und Aramons Tod: etwas, das noch ausstand. Sie sah Marilyns schönen weichen

Weitere Kostenlose Bücher