Der unausweichliche Tag - Roman
fürchte sie, beim Liebesakt mit Kitty erwischt zu werden. Im Bett, wo sie immer so überschwänglich, ja geradezu schamlos laut gewesen war, begann sie jetzt mit einer piepsigen Mäuschenstimme zu flüstern, als wären Kitty und sie Kinder, die nach dem Lichtausmachen im Schlafsaal des Internats das Schweigegebot brachen. Undwenn Kitty sie zu küssen versuchte, schob sie sie immer häufiger sanft weg.
So schlimm das auch war, Kitty wollte auf keinen Fall ein Drama daraus machen. Sie war fest entschlossen, sich nicht in dieses widerwärtige Beleidigtsein fallen zu lassen, das offensichtlich Lals Fehler gewesen war. Also lag sie, während Veronica schlief, hellwach neben ihr und grübelte über irgendeinen schlauen Trick nach, mit dem sie Anthony von Les Glaniques vertreiben könnte. Aber sie wusste, dass es keinen schlauen Trick gab. Er würde seine Abreise verkünden, wann und wie es ihm beliebte, keine Sekunde früher. Es blieb Kitty nichts anderes übrig, als darum zu beten, dass er sich von seiner abstrusen Idee verabschiedete, in den Cevennen (deren Abgeschiedenheit er noch gar nicht richtig begriffen hatte und von deren Kultur und Geschichte er nicht das Geringste wusste) leben zu wollen, oder dass bald ein Haus auftauchte, das seine kostbare Fantasie anfeuern würde.
Während Veronica leise schnarchte, versuchte Kitty Ruhe zu finden, indem sie sich an Anthonys Ärger über die Maklerbroschüren erinnerte. Sie versuchte, sich den Zustand seines Herzens vorzustellen, und zwar des konkreten Organs. Sie malte es sich bräunlich, trocken und hart aus, drinnen ein kleiner Puls, der im hektisch tickenden Takt einer Stoppuhr klopfte. Und sie stellte sich vor, dass ein Mensch mit einem Herzen in derart schlechtem Zustand kaum sehr lange leben würde – nicht einmal jemand, der so lahm und passiv wie Anthony Verey war. Also würde er wahrscheinlich bald sterben. Er würde an seinem versteinerten Herzen sterben.
Nach einer Weile entfalteten diese Fantasien die erhoffte tröstliche Wirkung, und Kitty wurde allmählich schläfrig. Sie drehte sich um und legte ihre Hand zärtlich auf Veronicas Rücken. Bevor sie endgültig einschlief, dachte sie noch, wie nett es sein würde, am Freitag zusammen mit Veronica und Anthony das gelbe Haus zu besichtigen und – dort oben zwischen wildemGinster und sterbenden Kastanien und in der ständigen Furcht vor sonnenbadenden Schlangen – zu beobachten, in welchem Ausmaß sich sein Entsetzen schon verfestigt hatte.
A nthony, Veronica und Kitty wurden im Wagen der Maklerin von Ruasse nach La Callune gefahren. Die Maklerin hieß Madame Besson. Sie hatte ihre Tochter Christine am Schreibtisch des jetzt, über Mittag, geschlossenen Büros zurückgelassen, wo sie ihre acht Zentimeter langen Zigaretten hintereinander wegrauchte und mit ihrem Handy telefonierte.
Madame Besson kannte die wilde Bergstraße ziemlich gut. Sie legte ein beängstigendes Tempo vor, schnitt kühn unübersichtliche Kurven und fuhr obendrein zu dicht auf. Anthony, der neben ihr saß, spannte seinen Sicherheitsgurt ganz fest, konnte aber weder kleine Schreie unterdrücken noch verhindern, dass sein rechter Fuß in einem fort zu einem imaginären Bremspedal vorschnellte.
Ein tödlicher Autounfall, fand er, wäre eine ziemlich sinnlose Art, sein Leben zu beenden. Und die Vorstellung, er könnte hier und jetzt in einem alten, miserabel chauffierten Peugeot umkommen, machte ihn nicht nur wütend, sondern bewirkte, dass er nun unbedingt das gelbe Haus sehen wollte. Er sehnte sich – jawohl, sehnte sich – plötzlich danach, durch diese Haustür zu gehen, zu erkunden, wie es sich in die Landschaft fügte, wie es mit dem Wetter zurechtkam. Seine Furcht, diesem Haus – einer konkreten Ausformung seiner Zukunft – leibhaftig gegenüberzustehen, war auf wundersame Weise verschwunden; dafür hatte er jetzt Angst, auf der Straße zu sterben, ehe er überhaupt dort ankam.
Um sich abzulenken, um die Angst in Schach zu halten, bat Anthony Madame Besson in seinem ungefähren, holprigen Französisch, ihm etwas über das Mas Lunel zu erzählen. Das seiner Bitte folgende Schweigen deutete darauf hin, dass sie einen Moment darüber nachdenken musste, zu welchem Haus sie eigentlich gerade unterwegs waren. Besson Immobilier , wolltediese kleine stumme Schreckminute sagen, ist das feinste Maklerbüro in Ruasse; Sie sollten wissen, dass wir Hunderte Grundstücke an der Hand haben, weshalb wir nicht immer gleich …
»Es ist ein sehr
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