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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sich in diesem Scheißleben sehnt. Und ich sehne mich genauso verzweifelt danach wie jeder andere Blödmann.«

A nthony saß allein am Marmortisch auf Veronicas Terrasse und studierte die Immobilien-Exposés der Makler aus Ruasse für Cevennenhäuser. Über ihm im spanischen Maulbeerbaum sammelte eine Spatzenschar mit viel Hin und Her Zweige und Stroh für die Nester.
    Die abgedruckten Fotos in den Makler-Exposés waren wahnsinnig unscharf. Zudem wirkten sie grünlichblau verfärbt, so als würden sie schon vergilben – weil sie entweder in einem Aktenschrank vor sich hin gewelkt oder in einem zu sonnigen Schaufenster gelegen hatten. Auf den meisten Fotos war der Himmel über den Häusern nicht blau, sondern grau. Es sah fast aus, als fiele ein lautloser, unsichtbarer englischer Regen.
    Anthony nahm seine Brille ab, putzte die Gläser mit seinem Taschentuch, setzte sie wieder auf und wandte sich erneut den Bildern zu. Er dachte daran, wie viel Sorgfalt er stets auf die Fotografien seiner Lieblinge für die Anzeigen in den teuren Hochglanzmagazinen verwendet hatte. Wie pedantisch er darauf geachtet hatte, dass Patina und Textur, Details und Farben durch die Beleuchtung auf jene unwiderstehliche, exquisite Weise eingefangen wurden. Diese Bilder hier – immerhin an Käufer gerichtet, die bereit waren, sich von mehr als einer halben Million Euro zu trennen – waren dagegen hastig und ungeschickt aufgenommen worden. Und nicht eines der Anwesen hatte auch nur die geringste Ähnlichkeit mit dem Haus, das Anthony vorschwebte. Ja, sie ängstigten ihn sogar. Und obwohl er natürlich wusste, dass die Kluft zwischen einer Idee und ihrer Verwirklichung manchmal so groß war, dass die einzig adäquate Reaktion darauf nur ein leiser Verzweiflungsschrei sein konnte, merkte er, wie dieser Drang zu schreien plötzlich dermaßen stark wurde, sich so wenig unterdrücken ließ, dass ihm die Luft wegblieb und er daran zu ersticken glaubte.
    Er wollte gerade ins Haus gehen und alle Broschüren in Veronicas Papierrecyclingtonne werfen, als Kitty Meadows auf der Terrasse erschien und unaufgefordert ihm gegenüber Platz nahm.
    Sie lächelte ihn an. Und dieses Lächeln ließ sie mehr denn je wie ein Pekinesenhündchen aussehen, dachte Anthony. Ihm schwante allerdings, dass eine Absicht dahintersteckte, dass dieses Lächeln wahrscheinlich für Worte stand, die sie nicht äußern konnte (oder wollte). Gewiss eine Entschuldigung, entschied oder vielmehr hoffte er. Nachdem sie in Les Méjanels so geschmollt hatte, stand ihm die doch wohl zu. Eine Entschuldigung dafür, dass sie die Macht des Blutes, das ihn mit Veronica verband, unterschätzt hatte.
    Kittys Lächeln verschwand, als sie die Hand ausstreckte und nach den Häuserbroschüren griff.
    »Darf ich mal schauen?«, fragte sie.
    »Nur zu«, sagte Anthony.
    Er beobachtete, wie sie das Foto von einem Gebäude studierte, das wie eine steinerne Manufaktur aussah, in der früher vermutlich Lavendelöl für Parfüm oder Öl aus den hiesigen Oliven gewonnen worden war. Das Gebäude hatte eine Reihe schmaler Fenster unter dem Dach und einen hohen Fabrikschornstein – insgesamt, wie ihm schien, ein Ort, der die Menschen darin gezielt in den Selbstmord treiben musste.
    Er sah zu, wie Kitty den horrenden Preis dieser Monstrosität registrierte und sich durch Maßangaben und Beschreibung der Details durchzuarbeiten begann. Über seinem Kopf hörte er, wie die Spatzen plötzlich in ein unruhiges, lebhaftes Gezwitscher ausbrachen, und er musste daran denken, wie köstlich es einst gewesen war, Teil einer schwatzenden, bewundernden Menge zu sein, und wie diese Menge ihn auf ihren Flügeln davongetragen hatte, an Orte, an denen er so gern gesehen werden wollte, wo die Menschen seinen Namen mit Ehrfurcht aussprachen.
    Wieder blickte er zu Kitty. Arme Frau, dachte er. Sie würde sich niemals – nicht einmal ansatzweise – vorstellen können, wie es gewesen war, auf der Vernissage in einer Mayfair-Galerie zu erscheinen. Wenn er, zwischen all den Gästen umherschlendernd, immer wieder hören konnte, dass sich ein kleines bewunderndes Schweigen wie leise fallender Schnee über ein Grüppchen senkte. »Das ist Anthony Verey. Der Anthony Verey …«
    Und wenn die Menschen sich dann von den Bildern an den Wänden abwandten, um ihn ostentativ zu begrüßen. »Anthony, mein Lieber!« »Anthony, was für eine himmlische Überraschung!« Und wenn er – das war das Allerschönste – genau wusste, dass seine

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