Der unausweichliche Tag - Roman
es, genoss es, fand es beinah erregend: Anthonys Entsetzen. Wer wie er mehr als sechzig Jahre lang derart rücksichtslos hedonistisch gelebt hatte, was konnte der anderes erwarten als Sterbensangst, wenn das letzte Kapitel seines Lebens aufgeschlagen wurde. Es war faszinierend, wie unübersehbar dieses Entsetzen war, fast wie eine extreme Form von Lampenfieber oder wie die Panik eines zum Tode Verurteilten. Sie war in der Tat dermaßen faszinierend, diese Angst, dass Kitty hoffte, sie werde noch ein Weilchen anhalten. Vielleicht könnte sie ja, getröstet durch die Erinnerung daran, nachts besser einschlafen, und wenn Anthony demnächst wieder einen verächtlichen Blick auf ihr Werk warf, würde sie leise zu sich selbst odersogar laut zu ihm sagen: Gut, als Malerin bin ich nur mittelmäßig, aber als menschliches Wesen bin ich im Besitz einer großen Leidenschaft, die mich vielleicht durch mein ganzes Leben trägt – und so etwas hast du nie erlebt und wirst es auch nie erleben. Und bevor du überhaupt ein einziges Haus besichtigt hast, sind deine Pläne für ein Leben in Frankreich schon zu Staub zerfallen …
Kitty stellte aber auch immer neue Berechnungen über Anthonys Aufenthaltsdauer in Les Glaniques an. Und die konnte, wie ihr aufging, durchaus zu einer stattlichen Summe von Tagen anwachsen, solange und sofern Anthony nicht ein Haus fand, das ihm gefiel. Erst zu dem Zeitpunkt ließ sich vermutlich ein Schlussstrich ziehen. Weil er dann, vielleicht auch etwas später, nach London zurückfahren müsste, um sein Geschäft aufzulösen, um Geld zu besorgen und den Verkauf seiner Wohnung in Angriff zu nehmen. Und von diesem Zeitpunkt an würden sie ihn für eine ganze Weile los sein. Vielleicht sogar für immer? Denn falls er vorschlagen sollte, er könnte doch, während er all die lästigen und kostspieligen Sanierungsmaßnahmen für seine neue Bleibe organisierte, gut weiter bei ihnen wohnen, würde sie, Kitty, ihren Fuß dazwischenstellen und ein Machtwort sprechen, und Veronica würde diesen »Fuß« akzeptieren müssen.
Amüsiert musste Kitty daran denken, dass Veronica eine Schwäche für die weichen Füße ihrer Geliebten hatte und sie gern mit ihren Handflächen streichelte, die mit Rosenöl parfümiert waren. Veronica hatte sich von ihnen sogar dort rubbeln lassen, wo sie Susans Sattel und die Wärme des Ponys zwischen ihren Schenkeln gespürt und sich, leidenschaftlich an den Hals des Pferds geklammert, in ihre grandiosen Teenager-Höhepunkte gerieben hatte. Und ja, genau das würde Kitty sagen: »Ich stelle meinen Fuß dazwischen, Liebes.« Sie würde Veronica gewissermaßen zur Zustimmung verführen. Das war das Wort: verführen.
In Kittys Träumen verlief die nahe Zukunft allerdings nichtso glatt nach Plan. Eigentlich waren es auch keine Träume; es waren Albträume. Und sie kamen sogar, wenn Kitty hellwach war. In diesen Albträumen fand Anthony kein Haus zum Kaufen. Er blieb einfach immer weiter in Les Glaniques – aus dem Frühling wurde Sommer und aus dem Sommer Herbst. Er übernahm das Kochen. Der Geruch seines Rasierwassers verpestete die Luft. Und seine ganze Unterhaltung drehte sich, immer und immer wieder, um die Vergangenheit, die er mit Veronica teilte – darum, wie sie beide unter der Abwesenheit des Vaters gelitten hatten, wie sie, nach Lals Tod »alles füreinander« gewesen waren, weil sie niemanden sonst hatten. Und die Beschwörung dieses mit privaten Witzen und Anspielungen gewürzten »Alles füreinander« quälte Kitty dermaßen, dass sie sich ihm entziehen, ins Freie fliehen musste und den langen Weg bis zum Fluss hinunter oder hinauf nach Sainte-Agnès lief. Dort setzte sie sich an den alten Brunnen, kühlte sich das Gesicht mit Wasser und hörte sich den beruhigenden Klatsch der Dorffrauen – über die neue Freundin des Bürgermeisters, die Namensliste für das Festkomitee, den Abgang der Postmeisterin, die einem Mann nach Limoges gefolgt war – so lange an, bis sie ihr inneres Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
Und noch etwas bereitete ihr Kummer: Sie glaubte, Anthony könne durch die Schlafzimmerwand hören, wie sie miteinander schliefen. Nicht nur in ihren Albträumen, sondern auch in Wirklichkeit: Er stand in seinem Zimmer oder im Flur und horchte in die Dunkelheit. Sie konnte ihn weder sehen noch hören, aber sie war sicher, dass er dort stand. Und sie wusste, dass dieselbe Beklommenheit allmählich auch von Veronica Besitz ergriff. Denn inzwischen schien es, als
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