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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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aufgeregt. Und er kam ein wenig aus der Puste, als er Madame Besson über die steile Treppe in den ersten Stock folgte.
    Hier waren die Decken niedriger, und die Zimmer wirktenüberladen und erstaunlich klein. Doch Madame Besson bemerkte Anthonys Enttäuschung mit beeindruckender Promptheit, begann, gegen die Wände zu klopfen, und sagte rasch: »Nichttragende Wände. Die könnten Sie entfernen. Und was ich machen würde, ich würde hier die Decken herausnehmen und auf den Dachboden verzichten. Ohne den haben Sie immer noch reichlich Fläche zur Verfügung, auch für neue Badezimmer. Ich würde also die Schlafzimmerwände bis hoch unters Dach ziehen. Sie können natürlich auch unterteilen, dann hätten Sie die herrlichsten Zimmer von fast gothischem Format.«
    Jetzt liebte Anthony Madame Besson. Vergeben waren ihr schlechtes Autofahren, ihre Verachtung für Veronicas barocke Figur, ihre Raucherei. Als Maklerin ging sie sehr intelligent vor. Sie hatte etwas ganz Gewöhnliches in etwas Wunderbares verwandelt. Tatsächlich hatte sie das Haus zu einem runden Ganzen gemacht: einem bezaubernden Juwel, dessen kühnste Kostbarkeiten noch hinter dünnen Leichtbauwänden ihrer Entdeckung harrten. Am liebsten hätte er ihrem sonnengegerbten Gesicht einen Kuss verpasst.
    Er ging zu einem der Schlafzimmerfenster und blickte hinaus auf das große Grundstück, das ihm gehören würde. Am Ende der Wiese gab es sogar eine ansehnliche Natursteinscheune, die man für einen großartigen Zweck umfunktionieren könnte (als Schwimmbad oder separate Gästewohnung?). Links davon konnte er die nach Süden abfallenden Terrassen erkennen. Sie waren mit Unkraut überwuchert, aber es standen dort Weinstöcke und Olivenbäume und etwas, das nach knorrigen, hübsch mit grauen, zerzausten Flechten überwachsenen alten Obstbäumen aussah. Das Fenster stand offen, und Anthony lehnte sich weit nach draußen und hörte jetzt nur noch die Vögel singen. Das Gefühl hier oben fand er einfach göttlich. Und er stellte sich vor, wie dieser Blick, mit der Zeit und mit Vs Hilfe, so verführerisch wurde, dass es ihn niemals mehr von hier fortziehen würde …
    Gerade als er Veronica herbeirufen und ihr zuflüstern wollte, er sei geneigt, das Haus zu kaufen, habe sich schon entschieden, könne sich vorstellen, wie grandios es demnächst aussehen werde, tauchte Kitty neben ihm auf. Bisher hatte sie sich noch nicht geäußert, doch ihm war nicht entgangen, wie ihre Frettchenaugen in alle Ecken huschten, und er hatte gesehen, dass die eingesperrten Hunde sie von Anfang an empört hatten – sentimental, wie sie nun einmal war. Jetzt stand sie neben Anthony und blickte ebenfalls hinaus.
    »Das ist interessant«, sagte sie. »Hier drinnen, selbst hier am Fenster, hat man das Gefühl, als ob das Haus völlig allein stünde.«
    »Was meinst du damit?«, fragte Anthony. »Es steht doch allein.«
    »Na ja, nicht ganz. Da ist noch die Kate.«
    »Welche Kate?«
    Kitty lehnte sich weiter aus dem Fenster. Ihr Haar war im Nacken sehr kurz geschnitten, fast wie bei einem Mann, was Anthony nicht ausstehen konnte. Anscheinend sollte man die kräftigen Sehnen ihres Halses bewundern.
    »Da drüben«, sagte sie. »Du kannst sie gerade noch sehen. Da. Wo der Weg eine Kurve macht.«
    Er blickte in die Richtung, in die sie zeigte. Sah ein niedriges Wellblechdach, die Ecke einer rosa gestrichenen Fassade, Geranien in Töpfen, die offenbar aus Plastik waren.
    »Hast du die Kate denn nicht gesehen, als wir die Auffahrt hochfuhren?«, fragte Kitty.
    »Nein«, sagte er. »Nein.«
    Und er hatte sie tatsächlich nicht bemerkt. Er hatte stur nach vorne geschaut, ganz auf den ersten Anblick vom Mas Lunel konzentriert. Aber da stand sie. Eine weitere Behausung, das Leben einer weiteren Person, das sich, mit all seinem Chaos und Gerümpel, auf dem Grund und Boden breit machte, der doch eigentlich ihm allein gehören sollte.
    Er fluchte leise. Da hatte er geglaubt, einen Zipfel vom Paradies erblickt zu haben, und dabei schlicht vergessen, dass es auf der Welt keine Paradiese mehr gab. Alle noch so schönen Orte waren durch irgendeinen Makel entstellt, durch irgendetwas in ihrer Nähe, das man weder sehen noch hören wollte und worüber man auch nicht nachzudenken wünschte. Und hier war er also wieder, der Makel. Genau wie das Gesicht des alten Weibs auf dem Aubusson-Wandteppich, das die heitere Aristokratenrunde genau in dem Moment verspottete, als ihr Speis und Trank gebracht wurden.
    Er

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