Der unausweichliche Tag - Roman
zugeflüstert: »Das ist vollkommen logisch, mein Sohn. Erst war da Renée, aber sie starb, sie wurde bestraft für das, was sie tat, dann war da deine Mutter, aber sie ist auch weg, sie verließ uns. Und deshalb gibt es jetzt … diese andere. Es ist logisch, dass das alles in der Familie bleibt. Vollkommen logisch.«
Regelmäßig verlor Aramon dabei das Bewusstsein. Allein der wahnsinnige Nervenkitzel, nachts in Audruns Zimmer zu gehen und das zu tun. Er hielt es für Liebe, die irrsinnigste, vollkommenste Liebe, die er sich vorstellen konnte. Sie war zu viel für seinen Körper und für seinen Verstand. Manchmal musste Serge anschließend kommen und ihn vom Boden ihres Zimmers aufsammeln, wohin sie ihn gestoßen hatte, und ihn in sein eigenes Bett zurücktragen, ihm auf die Wangen klopfen und einen Kognak einflößen, um ihn aus seiner Ohnmacht zu holen. » Allez «, flüsterte Serge dann zärtlich, »alles in Ordnung. Du stirbst nicht. Du hast nur getan, was junge Männer tun müssen. Schlaf jetzt.«
Dann hörte er Serge über den Flur laufen und ebenfalls in ihr Zimmer gehen, die Tür hinter sich schließen und wie ein Hund losjaulen. Aramon war das egal, es war ihm egal, dass er seine Liebe teilen musste. Was ihm zu schaffen machte, was ihn in den Wahnsinn trieb, war, dass sie niemals schrie. Alles, was er von ihr zurückbekam für das, was er tat – für die Liebe , die er ihr schenkte –, war ihr Schweigen.
Die Jahre vergingen – Serge und Aramon schrien mehr als fünfzehn Jahre lang in der Dunkelheit –, bis Serge krank wurde. Dann, auf seinem Sterbebett, sagte Serge zu seinem Sohn: »Ich werde in die Hölle fahren, Aramon. Das fühle ich. Und es ist deswegen . Also solltest du … lieber einen anderen Weg finden. Das Mas gehört dir und fast das ganze Land dazu. Heirate ein Mädchen. Lass Audrun sich ihr eigenes kleines Haus bauen. Sonst geht dein Leben schief. Tu es, bevor es zu spät ist.«
Tu es, bevor es zu spät ist.
Aramon ging nach Ruasse (ins andere Ruasse, für das Touristen sich selten interessierten) und suchte sich eine olivfarbene Hure namens Fatima und fickte sie zweimal die Woche in ihrem verschwiegenen Dachzimmer, wo Chiffontücher über die Lampenschirme drapiert waren und die parfümierte Luft nach Massageöl und Weihrauch duftete.
Doch bei dem, was Aramon Lunel mit Fatima machte, fiel er niemals in Ohnmacht.
Es war nie mehr so, wie es gewesen war. Und dann starb Fatima. Jemand tötete sie mit einem Messer, dort oben in ihrem kleinen heißen, duftenden Zimmer, man hatte sie von oben bis unten aufgeschlitzt, vom Brustbein bis zum Schambein, und sie wurde, in eine Plastikplane gewickelt, ins Leichenschauhaus transportiert.
Aramon wurde auf die Polizeiwache gebracht und befragt. (Sie nannten es Befragung, aber am Ende der Sätze schien es kein hörbares Fragezeichen zu geben.)
Sie haben dieses Mädchen umgebracht.
Sie haben diese Hure erstochen. Sie haben sie aufgeschlitzt.
Er erklärte ihnen, dass er sich nie die Mühe gemacht hätte, sie umzubringen. So viel habe sie ihm nicht bedeutet. Bei ihr sei er nie ohnmächtig geworden.
Ohnmächtig geworden.
Das könnte es erklären: Sie haben das Bewusstsein verloren.
Sie haben die Hure getötet. Dann sind Sie ohnmächtig geworden.
Die »Befrager« waren ganz normale, dumme Polizisten. Wie hätte man solchen Menschen jene absolut überwältigenden Gefühle von damals erklären können? Alles, was er immer wieder sagte, war: »Sie ist ohne Bedeutung für mich. Fatima. Wahrscheinlich habe ich nicht einmal ihren Namen ausgesprochen.« Und nach einer langen, zermürbenden Zeit, nach Tagen in Polizeigewahrsam, fanden sie einen anderen Mann und beschuldigten ihn des Mordes und ließen Aramon in Ruhe. Sie erklärten ihm, er sei »ein freier Mann«. Doch er wusste, was sie nicht wussten, dass er nach dem, was fünfzehn Jahre lang geschehen war, nie mehr frei sein würde.
Auf dem Friedhof von La Callune gab es viele Familiengräber. Der kleine Gottesacker war fast voll. Einige der Toten waren in Stein gemeißelte »Helden der Résistance«. Serge natürlich nicht. Er hatte Züge und Eisenbahnstrecken gegen Saboteure der Résistance geschützt. Aber einige der anderen schon. Doch jedes Mal, wenn er auf den Friedhof kam, war er allein, und es schien geradezu, als hätte Serge dafür gesorgt, dass sie miteinander reden konnten (jedenfalls betrachtete er es als eine Art Unterhaltung, obwohl er wusste, dass es ein Monolog war), ohne
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