Der unausweichliche Tag - Roman
nie mehr einen heiteren Frühling erleben dürfte, sondern sich das Kommen und Gehen der Jahreszeiten nur noch vorstellen könnte …
Audrun saß in ihrem Sessel, und langsam eroberte die abendliche Dunkelheit das Zimmer. Ihr wurde jetzt klar, dass sie ihn immer noch nicht hatte, den Plan, der dieses elende Leben beenden und keine Spuren hinterlassen würde. Sie zog ihre Jacke enger um sich. Dann dachte sie: Ich habe ihn noch nicht, aber er wird kommen. Er wird sich unaufgefordert bei mir melden, wie ein Fremder, der plötzlich forsch vor meiner Tür steht. Und ich werde mich erheben und ihm folgen.
Sie stand früh auf, trank ihre Schale Kaffee, zog ihren geblümten Kittel an und begann, das Haus für den Besuch des Landvermessers zu putzen. Sie fuhr mit einem Wischmop über die gefliesten Fußböden, der feuchte, glänzende Streifen hinterließ, und wünschte, dieser Schimmer würde bleiben, was er nie tat.
Sie wusste, dass die Kate nichts anderes war als ein zusammengepfuschter Verschlag mit einem Blechdach, aber nun, da sie diese Kate wahrscheinlich verlieren würde, spürte sie eine Art sentimentaler Anhänglichkeit. Denn sie enthielt alles, was Audrun hatte: ihr Bett, ihren Schrank, ihre Pflanzen, ihren Fernseher, ihren Herd, ihre Teppiche, ihren Lieblingssessel. Die Wände hatten sie beschützt, ihren Schmerz an einem Ort gebündelt.
Der Morgen war hell und ruhig. Audrun goss die Geranien auf ihrer Terrasse, zog in ihrem Gärtchen zwei weiße Zwiebeln fürs Abendessen aus der Erde und verscheuchte einen grünen Frosch. Während der Frosch im Gras verschwand, sah sie, wie Marianne Viala die Straße zu ihr hochkam.
»Der Landvermesser kommt heute Morgen«, erklärte sie Marianne.
Auf einem blauen Teller hatte Marianne ein Stück ihrer berühmten tarte au chocolat mitgebracht. Sie setzte den Teller auf dem Plastiktisch ab. Sie schüttelte ihren kleinen Kopf mit dem in stramme Dauerwellen gelegten hellbraun gefärbten Haar. »Aramon sollte sich schämen«, erklärte sie.
Sie setzten sich auf die Plastikstühle, die unangerührte tarte zwischen sich. Immer wenn ein Auto auftauchte, drehten sie den Kopf und starrten neugierig in die Richtung, ob es etwa der Landvermesser war. Nach einer Weile meinte Marianne: »Wenn dein Bruder dein Haus abreißt, kannst du bei mir wohnen.«
Audrun schwieg. Sie wusste, dass das sehr nett von Marianne war, außerordentlich nett sogar – wenn sie es wirklich ernst meinte –, aber für sie kam es einfach nicht in Betracht. Sie hatte ihr ganzes Leben hier gelebt, auf diesem Land, das seit drei Generationen der Familie Lunel gehörte. Es wäre schrecklich, plötzlich in einem kleinen dunklen Hinterzimmer zu landen, umgeben von Dingen, die Marianne gehörten. Sie hob den Kopf und sagte: »Ich denke, ich werde im Mas wohnen.«
»Wie bitte«, sagte Marianne, »mit ihm ?«
Audrun blickte auf ihre Hände, die fest zusammengefaltet auf dem Tisch lagen.
»So viel, wie er trinkt«, sagte sie, »wird er wohl nicht mehr allzu lange leben.«
Als eine Stunde vergangen war, kochte Audrun noch einen Kaffee, und die beiden Frauen aßen die Schokoladen- Tarte und spürten, wie die Süße ihren Geist belebte. Sie tauschten nun Erinnerungen an die Schulzeit aus. Dazu gehörte auch die Geschichte von ihrem Lehrer, Monsieur Verdier, der donnerstags immer mit seinem Mischlingsköter Toto in den Unterricht kam, weil seine Frau an diesem Tag im Dorfladen arbeitete und Toto eine Kreatur war, die nicht allein sein konnte.
In der Pause durfte Toto mit den Kindern zusammen auf den Hof, und alle knuddelten und streichelten ihn, zogen ihn anden Ohren, fütterten ihn mit Süßigkeiten und jagten ihn durch die Gegend, und ein paar ältere Jungen bewarfen ihn mit Stöcken, aber er tollte einfach weiter umher.
Eines Donnerstags dann lag Toto nicht in seinem Korb im Klassenzimmer, und Monsieur Verdier gab den Kindern eine stille Leseaufgabe, blieb regungslos an seinem Pult sitzen und starrte aus dem Fenster in den Himmel.
»Bitte, Herr Lehrer«, fragte eines der Kinder, »wo ist Toto?«
»Toto ist verschwunden«, sagte Monsieur Verdier. »Wir wissen nicht, wohin. Jetzt hoffen wir nur, dass er nicht allein ist.«
»Ist er jemals wiedergekommen?«, fragte Marianne. »Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Nein«, sagte Audrun. »Er kam nicht wieder. Alles, was man liebt, kommt nicht wieder.«
Marianne stöhnte, wie um zu sagen, dass Audruns Pessimismus manchmal wirklich schwer zu ertragen war,
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