Der unausweichliche Tag - Roman
mit einem wiegenden Gang. Und bei diesem wiegenden Gang war Audrun etwas seltsam zumute geworden, so als besäße diese Person mystische Kräfte.
Und nun beschäftigte sie plötzlich die Frage, ob Jesus von Nazareth sich damals den Fischern am Seeufer auch in diesem wiegenden Gang genähert hatte, als er sie zu seinen Jüngernberief und die Fischer aus ihren Booten stiegen, ihre Netze und ihr ganzes bisheriges Leben hinter sich ließen und ihm, ohne zu zögern, folgten. Audrun wusste, dass das eine unpassende Vorstellung war, eine Blasphemie sogar, genau die Sorte Gedanken, die normale Menschen auf die Idee brachte, sie sei verrückt. Aber niemand schien zu begreifen, dass man sich seine Gedanken nicht aussuchen kann. Und das war eines der verwirrenden Dinge in ihrem Leben: Die Gedanken suchten sich Audrun aus. Und nicht nur die Gedanken. Sie war ein Gefäß, ein Behältnis für unvorstellbar schreckliche Taten. Und damit musste sie leben: mit der Tatsache, dass das Unvorstellbare manchmal in ihr zur Wirklichkeit wurde, aber eben nur in ihr.
Sie saß in ihrem Sessel und ruhte sich vom Mähen aus. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie Aramons Tabletten stibitzt, sie zermahlen, in warmem Wasser aufgelöst und in den Klistierbeutel gefüllt hätte, um dann leise in sein Zimmer zurückzuschleichen. Würde er zu schnell aufwachen und sich ihr heftig widersetzen? Oder würde sie, auch wenn sie schon mit der Flüssigkeit und dem Klistier hantieren sollte, Ruhe bewahren, ihn besänftigen und ihm erklären können, sie wolle ihm nur mit einer speziellen Art von Entschlackung etwas Gutes tun? Das werde die Übelkeit vertreiben. Und dann endlich würde er sich fügen. Er würde sich in seinen eigenen Tod fügen …
Audrun schloss die Augen. Als sie beide klein waren und Bernadette sie noch nicht verlassen hatte, um auf dem Friedhof in La Callune zu ruhen, war Aramon einmal auf einer der hinteren Terrassen von einem Aprikosenbaum gefallen, und sie, seine zehnjährige Schwester, hatte ihn schreien hören und gefunden, halb ohnmächtig vor Schmerzen, und sie hatte ihn zu trösten und zu beruhigen versucht, während er mit seinem gebrochenen Knöchel auf der Erde lag und sich krümmte.
Sie hatte versucht, ihn hochzunehmen und zu tragen, doch er war zu schwer, und sie musste ihn wieder auf ein matschigesBett aus abgefallenen Aprikosen und trockenen Blättern legen. Sie sagte, sie werde Bernadette oder Serge holen gehen, aber Aramon klammerte sich an sie. Er war dreizehn und hatte Angst und sagte: »Lass mich nicht allein hier. Lass mich nicht allein, Audrun …«
Also legte sie seinen Kopf in ihren Schoß und streichelte sein Gesicht und versuchte ihn zu beruhigen, und nach einer Weile wurde er tatsächlich still und fiel in eine Art Trance. Sie saß, umschwirrt von Wespen, auf dem matschigen Boden, hielt ihn im Schoß und wartete. Wagte nicht, um Hilfe zu rufen, damit er nicht aus seinem seltsamen Schlaf erwachte, und war stolz darauf, dass sie diesen Schlaf hatte herbeiführen können.
Und erst später, nachdem Serge sie bei Anbruch der Dunkelheit gefunden hatte, war ihr erklärt worden, dass sie sich falsch verhalten habe, dass Aramon da unten auf den Terrassen an seinem Schock hätte sterben können, dass sie ihn mit ihrer Jacke hätte zudecken und sofort Hilfe holen sollen. In der Nacht hörte sie ihren Vater zu Bernadette sagen: »Diese Tochter von dir hat keinen Verstand. Sie tut nicht, was richtig ist. Gott weiß, was sie für ein Leben haben wird.«
Gott weiß, was für ein Leben.
Und jetzt könnte es wieder falsch laufen, dieses Etwas, das sie ihr Leben nannte. Wenn sie nun tat, was sie am liebsten tun würde, das, wovon sie wusste, dass sie es tun musste , würde ihr danach nicht ein elendes Leben gewiss sein? Denn Gefängnis wäre wie Sterben, so wie die Arbeit in der Unterwäschefabrik in Ruasse eine Art Sterben gewesen war. Sie würde sich durch die Tage schleppen – zwischen einer eiskalten Zelle und einem lauten, hallenden Saal, in dem Frauen wie Dämonen kreischten und lachten, während sie ihrer hässlichen Arbeit nachgingen. An diesem Ort würde sie bestimmt ihr Augenlicht verlieren. Ihre Episoden würden sich häufen, bis sie so dicht aufeinander folgten, dass sie eine endlose Serie unaussprechlichen Leidens und größter Verwirrung bildeten. Und in den Nächten würdenTräume von ihrem Wald sie heimsuchen, da sie wusste, dass sie ihn nie wieder sehen, nie mehr sein Seufzen vernehmen,
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