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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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und sie wechselte das Thema und begann von ihrer Tochter Jeanne zu erzählen, die inzwischen Lehrerin an einer Schule in Ruasse war. »Die Kinder dort sind viel schlechter erzogen als wir damals«, sagte Marianne. »Sehr viel schlechter – jedenfalls in den städtischen Schulen. Jeanne hat große Schwierigkeiten. Und sie hat mir erzählt, dass sie in diesem Schuljahr ein Kind aus Paris hat, das schlimm gehänselt wird.«
    »Na ja«, sagte Audrun. »Hänseln ist nichts Neues.«
    »Nein. Aber für Jeanne ist es hart. Sie versucht doch immer, zu allen fair zu sein. Und es bedrückt sie, wenn ein Kind unglücklich ist, aber sie sagt auch, dass dieses kleine Mädchen sehr verwöhnt ist. Ihr Vater ist Arzt oder etwas in der Art.«
    »Wie heißt sie denn?«, fragte Audrun. »In Paris geben sie den Kindern doch gern Namen von Filmschauspielern, amerikanische Namen.«
    »Ja«, sagte Marianne. »Sie heißt Mélodie. Mélodie . Wie kann man ein Kind bloß so nennen! Und natürlich macht es das noch schwieriger für Jeanne.«Der Morgen ging vorüber; Marianne hatte sich auf den Heimweg gemacht; vom Landvermesser keine Spur.
    »Wenn du eine Frau bist«, hatte Bernadette einst zu Audrun gesagt, »dann verbringst du einen großen Teil deines Lebens mit Warten. Du wartest auf die Rückkehr der Männer – aus dem Krieg oder von den Feldern oder von der Jagd in den Bergen. Du wartest darauf, dass sie sich endlich entschließen, all die Dinge zu reparieren, die repariert werden müssen. Du wartest auf ihre Liebesbeteuerungen.«
    Audrun ging ins Haus. Sie aß etwas Brot und Käse und verschloss dann ihre Haustür und legte sich auf ihr Bett. Sie stellte fest, dass das Warten sie müde gemacht hatte. Sie schlief zwei Stunden und wurde durch ein Klopfen an ihrer Tür geweckt, und weil es so wütend klang, dachte sie, es müsse Aramon sein, der vorbeikam, um sie wegen irgendetwas zu beschimpfen, und deshalb ließ sie sich Zeit mit dem Öffnen.
    Draußen stand ein Mann in einem zerknitterten grauen Anzug und einer Krawatte, die lose um seinen Hemdkragen hing und schlapp an ihm herunterbaumelte. Unter seinem Arm klemmte ein Stapel Papiere.
    »Ich bin der Landvermesser«, sagte der Mann. »Aus Ruasse.«



K urz nach Bernadettes Tod hatte Serge zu seinem Sohn gesagt: »Jetzt stehen wir zwei gegen den Rest der Welt, Aramon. Du und ich gegen die ganze Welt. Wir müssen die Kontrolle übernehmen. Und ich werde dir auch verraten, wie.«
    Aramon stand in der Nähe der Lunel-Grabstätte auf dem Friedhof von La Callune.
    Er sah, dass er einen kleinen Kranz aus Plastikblumen in der Hand hielt, wusste aber nicht, wie der dahin gekommen war. Hatten seine Hände ihn einfach vom Mausoleum einer anderen Familie genommen? Hatten sie ihn irgendwo im Gras gefunden?
    Aber eigentlich war das nicht wichtig. Ein Plastikkranz war etwas, das niemanden auch nur die Bohne interessierte, und so legte er ihn zerstreut unten ans Ende der Granitplatte, unter der seine Eltern und seine Großeltern Lunel, Guillaume und Marthe, ruhten, alle übereinander, seine Mutter und sein Vater als Letzte obendrauf gepackt, direkt unter dem Grabstein. Und es kam Aramon fantastisch vor, dass er jetzt älter war als Serge bei seinem Tod.
    Die Zeit war etwas so Instabiles, dachte er, dass man nur staunen konnte, wenn es überhaupt jemand schaffte, sich aus diesem flüchtigen Element ein einigermaßen vernünftiges Leben zu schnitzen.
    Im tiefsten Herzen wusste Aramon, dass ihr Leben – seines und das von Serge – beschädigt und verdorben worden war durch das, was sie nach Bernadettes Tod getan hatten. Doch er wollte nicht das Gefühl haben, dass sie die Schuld daran trugen, er selbst oder Serge. Schuld trug die Zeit . Die Zeit hatte ihnen Bernadette gegeben und wieder genommen, genau wie sie, lange vorher, Renée genommen hatte. Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit. Die Zeit änderte die Art und Weise, wie dereigene Körper fühlte, sie änderte die Dinge, die er verrichten musste.
    Das war nichts, worüber man reden konnte, falls man überhaupt dazu in der Lage gewesen wäre. Selbst als sein Vater und er damals die heiße Erde in den Zwiebelbeeten aufhackten (in den längst vergangenen Tagen, als Zwiebeln der Familie noch ein gutes Einkommen garantierten), als sie eine Reihe nach der anderen gemeinsam auflockerten, während Audrun in der Unterwäschefabrik in Ruasse arbeitete, hatten sie über dieses Thema geschwiegen. Nur ein einziges Mal, ganz am Anfang, hatte Serge ihm

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