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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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dass andere Friedhofsgänger, die ihre Verstorbenen besuchten, mithören konnten. »Diese Dörfer stecken voller Spione«, hatte Serge einmal zu ihm gesagt. »Man kann niemandem trauen. Nur der Familie.«
    Jetzt erklärte Aramon Serge, er sei sehr durcheinander. Er werde demnächst einen Haufen Geld für das Mas und das Grundstück bekommen. Vierhundertfünfundsiebzigtausend Euro! Fast drei Millionen Francs! Mehr Geld, als es jemals in der Lunel-Familie gab. Doch er wisse nicht, wohin er gehen sollte, wenn er erst mal all dieses Geld bar in der Hand hielte.
    »Wohin soll ich bloß gehen?«, fragte er. » Wohin?«
    Er sehnte sich nach einer Antwort von Serge. Serge Lunel war seit jeher ein Überlebender, ein Davongekommener gewesen. Und stets war er nur mit knapper Not davongekommen. Dem Gemetzel der deutschen Armee in den Ardennen war er um Haaresbreite entgangen. Er hatte Renées Tod durch die Heirat mit Bernadette überlebt. Er war nicht von der S.T.O. zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt worden, weil er sich bereit erklärt hatte, einen Nacht-Job in Ruasse zu übernehmen und Züge zu bewachen. Und dann das, was später gekommen war: Er hatte seine eigene Schuld überlebt, indem er seinen Sohn zum Komplizen machte.
    Aramon starrte auf die pompösen Gräber. Alles hier in der Gegend hatte so viel Gewicht . Die Erde. Die Häuser (die der Lebenden und der Toten). Die Kanister für irgendwelches Gift, die man auf dem Rücken schleppen musste. Die Steine im Flussbett. Die regenschweren Gewitterwolken …
    Er trank, weil die Dinge so viel Gewicht hatten. Der Alkohol machte ihn nach und nach immer kränker, das wusste er, aber er fand keinen Ersatz, keine andere Methode, um der Last der Erinnerungen zu entkommen, die ihn zu zermalmen drohten. Seine Schuld und die Liebe, die er nicht ausdrücken konnte, drohten ihn zu zermalmen.
    In seinen Tagträumen war er häufig wieder ein Junge, und Audrun war ein kleines Mädchen, das in dem staubigen Hof mit ihrem Seil hüpfte, und die Sonne schien auf ihr braunes Haar. Gemeinsam fütterten sie die Hühner und das Hausschwein. Nach schweren Regengüssen wurden sie gemeinsam mit zwei gleichen Blecheimern losgeschickt, um Hand in Hand Schnecken zu sammeln.
    Wenn sie Schnecken am Fluss sammelten und ihre Gummistiefel schwer von der feuchten Erde waren und das nasse Gras und die Binsen ihnen um die Beine wischten, fragte er sie manchmal, ob er ihre Narbe sehen könne, dort wo die Chirurgen ihr das Schweineschwänzchen abgeschnitten hatten, undsie hob ihr Kittelkleid und zeigte ihm ihr kleines rundes Bäuchlein, und er streichelte es und sagte, es tue ihm leid, dass er sie gehänselt und behauptet hatte, sie sei die Tochter eines SS-Mannes. Und sie sagte, das sei nicht schlimm, sie habe alles längst vergessen. Und er gab ihr ein paar von seinen Schnecken ab, damit Bernadette stolz auf sie sein und sagen konnte: »Das hast du fein gemacht, ma chérie . Du hast mehr gefunden als dein Bruder.«
    Und zu anderen Zeiten, an warmen April- oder frühen Maitagen, standen sie in der Abenddämmerung still beieinander auf einer Wiese mit blühenden Kirschen und horchten auf die Nachtigallen, und in dem schwindenden Licht begannen die weißen Blüten zu leuchten. Und eines Abends – Audrun war noch ein Kind, aber ihre Schönheit war schon zu ahnen, sie wurde ihrer Mutter und ihrer toten Tante immer ähnlicher –, da brach Aramon einen kleinen blühenden Kirschzweig ab und steckte ihn ihr hinter das Ohr, und sie schaute ihm ins Gesicht und sagte: »Jetzt bin ich eine Prinzessin, nicht?«
    Bring mich dorthin.
    Das hätte Aramon am liebsten zu Serge gesagt. »Das ist der Ort, zu dem ich gerne möchte. Bitte, o bitte, bring mich dorthin: zu dem Feld mit den weißen Blüten.«
    Doch die Toten reagierten nie auf die Bitte eines Lebenden. Sie konnten zwar, so schien es, für eine vertrauliche Stunde sorgen, aber wenn man ihnen seine Sehnsüchte zuflüsterte und sie um Hilfe bat, waren sie doch wieder nur untätig und nutzlos: einfach morsche Äste, nackte Zweige, Staub.
     
    Aramon ging langsam und unter Qualen zurück zum Mas Lunel. Seine Füße taten jetzt ständig weh. In seiner Hüfte stach ein Schmerz. In seinen Eingeweiden grummelte es. Es war kein richtiger Hunger und es war keine richtige Übelkeit, sondern ein elendes Unbehagen, das er nicht genau definieren konnte. Und er überlegte, ob er sich nicht, wenn er erst einmal all dasviele Geld für das Mas besäße, ein Krankenhaus oder ein

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