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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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»Und sage ihnen, sie sollen den englischen Käufer wieder herschicken. Wenn der hört, dass dieser Verschlag hier bald verschwunden ist, wird er auch meinen Preis zahlen. Dann können wir alle von vorne beginnen.«
    Von vorne beginnen …
    Dieser Gedanke huschte und wisperte durch das dunkle Zimmer. Audrun konnte hören, wie der Wind auffrischte und ihn zu übertönen versuchte. Inzwischen war ihre Sehnsucht nach der Markknochenbrühe zu einem geradezu wütenden Verlangen geworden, so sehr hungerte es sie nach etwas Wohltuendem. Aramon zündete sich eine neue Zigarette an und sagte: »Marianne meint, du kannst eine Weile bei ihr wohnen. Ichfinde das ziemlich anständig von ihr, du nicht auch? Aber ich glaube nicht, dass du da für immer bleiben kannst. Du musst dich entscheiden, Audrun: Willst du dir ein Häuschen in deinem Wald bauen? Oder willst du verkaufen? Mit dem, was du für den Wald kriegst, könntest du dir eine Wohnung in Ruasse leisten.«

M it elf Jahren wurde Anthony von Hampshire auf ein Internat in Sussex geschickt. Und seit jenem Tag hatte er Schwierigkeiten mit dem Einschlafen.
    »Verey!«, bellte sein Haus-Tutor, Mr. Perkins (von den Jungen »Polly« genannt), ihn beim Morgenappell vor dem Speisesaal an. »Du siehst ja halb tot aus. Steh gerade, Junge!«
    Anthony versuchte, Polly zu erklären, dass er den Trick, wie man einschläft, vergessen hatte, einen Trick, den alle anderen Jungen im Schlafsaal offenbar ganz selbstverständlich beherrschten. Er sah und hörte, wie einer nach dem anderen ihn anwendete. Sie drehten sich zur Seite, nahmen ihr Kissen in die Arme oder legten die Ellbogen über das Gesicht, und binnen kürzester Zeit – binnen Sekunden – schien der Trick zu funktionieren, denn sie klangen nach unbeschwerter Ruhe. Nur er, Anthony, lag wach in der fast vollständigen Dunkelheit, horchte auf all das rhythmische Atmen und Seufzen, beneidete die Schläfer aus tiefster Seele und sehnte sich danach, ebenfalls dort hinzusegeln, wo sie waren, konnte es aber nicht. Manchmal schlief er ein, wenn es gerade hell wurde, oder kurz bevor die Morgenglocke um fünf vor sieben läutete, oder eben überhaupt nicht.
    Verey, du siehst ja halb tot aus. Steh gerade, Junge!
    Im Laufe der Jahre hatte Anthony die verschiedensten Methoden ausprobiert und versucht, sich in Bewusstlosigkeit zu lullen, und dieses ewige, fruchtlose Herumdoktern am Schlaf erschien ihm wie eine zutiefst ungerechte Strafe, wie eine elende Buße, die er niemals hätte leisten müssen, wenn Lal ihn nicht auf das Internat geschickt hätte.
    Wenn seine Mutter plötzlich wieder lebendig würde, dachte er manchmal, gäbe es ein paar Dinge, für die er sie wohl doch ausschimpfen müsste. Natürlich würde er es liebevoll tun. Erwürde ihre Hand halten oder ihre Füße zärtlich in seinen Schoß legen und sie mit seinen langen, empfindsamen Fingern massieren, und dennoch würde er sie daran erinnern, dass sie in ihrem allzu kurzen Leben gar nicht so selten das Verbrechen der Gedankenlosigkeit begangen hatte.
    Jetzt, nach der späten Rückkehr von der Dinnerparty bei den Sardis, musste Anthony es in Veronicas Gästezimmer erneut durchleiden, jenes alte quälende Wachliegen, gegen das es kein wirksames Mittel gab. Das Kastenbett kam ihm hart und eng vor. Von dem vielen Champagner hatte er Kopfschmerzen.
    Er litt an einem Durst, den Wasser niemals würde löschen können.
    Bilder des schönen Nicolas geisterten in den entlegensten Winkeln seines Kopfs umher. Er verspürte ein außerordentliches Verlangen – eine Sehnsucht wie seit Monaten nicht –, jemanden, diesen Jemand, in seinen Armen zu halten, und er wollte nicht, dass dieses Gefühl erlosch.
    Er berührte sich selbst. Er verirrte sich nur selten in die Falle der Selbstbefriedigung und ihrer Enttäuschungen. Dieses Szenario deprimierte ihn, es war, als würde er jedes Mal ganz unausweichlich in der Schmuddeligkeit des Internatsschlafsaals landen. Doch jetzt schloss Anthony die Augen und fantasierte, er wäre mit Nicolas in einer noblen Hotelsuite in New York, wo das Bett groß und weich war und vor den Fenstern schwere, dicke Vorhänge hingen. Draußen auf der Straße brummte und flimmerte der New Yorker Verkehr. Frankreich und England waren so weit weg, dass eine Rückkehr dorthin fast undenkbar schien. Nicolas küsste ihn. Anthony war schon sehr erregt, und das lang vermisste Gefühl eines so heftigen Begehrens ließ ihn erbeben. Er war tot gewesen, sein Körper war so lange tot

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