Der unausweichliche Tag - Roman
gewesen, aber jetzt war er lebendig. Er legte den frühreifen Knaben quer über das Bett. Sein junger Körper war gebräunt, schlank und stark. Ohne die Augen von Nicolas zu lassen, zog Anthony langsam seine Kleider aus. Der Junge streckte einen Arm aus.
Nackt und kein bisschen verlegen wegen seiner alternden Nacktheit, kletterte Anthony auf das Bett, küsste Nicolas wieder, setzte sich vorsichtig rittlings auf ihn und beugte sich über sein Gesicht. Er wollte auf keinen Fall etwas von dieser umwerfenden Schönheit verletzen oder beschädigen. Solch eine Schönheit hatte respektiert zu werden. Alles, was er machte, war, den sinnlichen, rosigen Mund des Jungen mit seinem Daumen zu berühren, und dann richtete Nicolas sich auf, und Anthony stellte sich jetzt den weit geöffneten verlangenden Mund vor, einen Mund wie den eines Säuglings, der sich nach der Brust der Mutter sehnte, und der Mund umschloss fest seinen Schwanz, und die Zunge begann zu lecken, und nach kaum dreißig Sekunden kam er in diesem göttlichen Mund.
Danach blieb er sehr still liegen. Er fühlte sich wie ein erschöpfter Langstreckenläufer.
Er schlief und träumte von Lals Sterben. In seinem Traum vollzog sich alles genauso, wie es auch wirklich gewesen war.
Veronica nahm gerade in Italien an irgendeinem teuren Seminar für Gartengestaltung teil, als Lal sich endlich ihre Krebskrankheit eingestand. Lal hatte nicht gewollt, dass man ihre ach so gesunde Tochter benachrichtigte. Sie habe einen »kleinen Rückfall«, wie sie es nannte, verspreche aber, bei Veronicas Heimkehr wieder wohlauf zu sein.
Lal wurde in ein Krankenhaus in Andover gebracht. Am Morgen des dritten Tags in dem kleinen, nichtssagenden Privatzimmer mit ihrem Namen, Mrs. Raymond Verey, auf einem Kärtchen draußen neben der Tür, war Anthony mit dem Wagen von London zu Besuch gekommen.
Ihr fünfunddreißigster Geburtstag war nicht mehr fern.
In der vorangegangenen Nacht hatte Anthony überhaupt nicht geschlafen. Und als er endlich in Andover ankam, befand er sich in einem Zustand nervöser Erschöpfung.
Lals Haut war gelb und wächsern. In ihren mageren Arm tropfte irgendeine lebensverlängernde Flüssigkeit. Sie bekam Morphium und wechselte zwischen Wachzuständen und Bewusstlosigkeit. Anthony saß an ihrem Bett und las ihr laut aus Paul Scotts Nachspiel vor, ihrem Lieblingsbuch. Dabei hatte er immer wieder den Eindruck, dass Lal durchaus zuhörte, weil in ihren Mundwinkeln ein sanftes Lächeln erschien, und als er ein- oder zweimal aufhören wollte, murmelte sie: »Lies weiter, Liebling«, und so fuhr er fort:
»Es war schon erstaunlich, wie stark sogar Frauen von zierlicherem Wuchs als Lila sein konnten – und wie zielstrebig. Ihre plötzlichen, unerklärlichen Launen und Vorlieben bei Dingen, die ihm manchmal belanglos vorkamen (zum Beispiel Unterhosen mit ypsilonförmigem Verschluss statt der weiteren und kühleren Boxershorts), waren genauso verwunderlich. All dies gehörte natürlich zu ihrem Charme, wie auch, dass man nie wusste, was sie als Nächstes sagten oder taten, oder wo man bei ihnen stand bzw. lag. An einem Abend, an dem es ihm in Ranpur gelungen war, Hot Chichanyas Auge auf sich zu lenken und von ihr mit aufs Zimmer genommen zu werden, hatte er sich wegen seiner Unterhosen auslachen lassen müssen …
Dann war Mittagszeit im Krankenhaus, und eine Schwester stellte etwas für Lal auf den Tisch, eine Mahlzeit, von der Anthony wusste, dass Lal sie nicht essen konnte, und er ließ sie allein und ging in die Cafeteria. Er wollte einen Kaffee trinken, wollte sich wach halten, um ihr am Nachmittag weiter aus Nachspiel vorzulesen. Aber in der Cafeteria merkte er, dass er keine Minute länger wach bleiben konnte, und so ging er zu seinem Wagen, setzte sich hinein und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Er wusste nicht, wie lange er an jenem Nachmittag im Auto geschlafen hatte. Eine Stunde? Zwei? Er konnte sich nur noch daran erinnern, wie er die Wagentür geöffnet hatte, ausgestiegen war, und die Sonne hatte golden auf eine niedrige Feuerdorn-Hecke mit dicken, korallenroten Beeren geschienen, und ein Hauch von beginnendem Herbst hatte in der Luft gelegen.
Als er in Lals Krankenzimmer zurückkehrte, war sie tot.
Ihre Augen waren bereits von einer Schwester oder einem Arzt geschlossen worden, das Kissen unter ihrem Kopf hatte man entfernt, damit das Kinn nicht herunterfiel. Ihr kleiner dünner Arm wurde schon kalt. Und – wie furchtbar – da stand noch
Weitere Kostenlose Bücher