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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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packte. Ja, sie fühlte es . Als hätte sie, für den Bruchteil einer Sekunde, für einen winzigen Moment, ihren eigenen Körper verlassen und die Luft bewohnt, die dieser Fremde atmete …
    … und dieses aus sich Heraustreten, dieses sich vom eigenen Selbst Trennen, es war ihr so vertraut wie ihr eigener Herzschlag, wenn sie im Dunkeln in ihrem Bett lag. Sie wusste, dass es etwas bedeutete – etwas, das eigentlich nicht mehr passieren sollte, das aber trotz alledem passierte.
    Trotz alledem.
    Worte. Wer wusste denn, wann es die Richtigen waren? Wer?
    Jetzt starrt er sie entsetzt an, der Mann, dessen Namen sie schon vergessen hat. Er ist nichts als dieses entsetzte Starren, dicht vor ihrem Gesicht, mit einem Mund, der sich bewegt, als spreche er oder versuche er zu sprechen, doch es kommt kein Ton. Und dann senkt sie sich über Audrun: die Leere.
     
    Sie erwachte auf dem Boden ihres Wohnzimmers, zugedeckt mit ihrem grünen Federbett. Marianne Viala kniete neben ihr und hielt ihre Hand. Irgendwo, außer Sichtweite, war noch eine andere Person, die wartete, wartete, dass die Zeit verging.
    Mit einer Stimme, die dünn und erstickt klang, erklärte Audrun: »Bernadette sagte immer, wenn man im Süden lebt … so weit im Süden wie hier, wo der Mistral weht … dann können Ereignisse einfach … einfach …«
    »Pscht«, sagte Marianne.
    »Sie sagte immer … man kann die Dinge nicht nach seinem Willen formen.«
    »Pscht«, sagte Marianne noch einmal. »Trink einen Schluck Wasser.«
     
    Später erwachte sie in ihrem Bett. Ihre freundliche kleine Nachttischlampe brannte, und das war etwas Tröstliches, wofür sie dankbar war. Sie wusste, dass etwas passiert war, weil sie sich schwach und verfroren fühlte. Aber was?
    Sie blickte sich um, über ihr Bettzeug hinweg, um zu sehen, ob sie allein war. Etwas Bitteres stieg ihr in die Nase – Luft, die nach einer gewissen Veränderung roch.
    »So«, sagte eine Stimme, »endlich bist du aufgewacht.«
    Also war Aramon da. Magerer Arsch auf hartem Stuhl. Zigarette in der Hand.
    »Was ist passiert?«, fragte sie ihn.
    »Was soll schon passiert sein? Du hattest einen deiner Anfälle. Diesmal hast du es doch absichtlich gemacht, oder?«
    Sie war hungrig. Sie hätte gern gesagt: Koch mir eine Brühe, mit Gemüse und Markknochen, so wie Bernadette sie gemacht hat, als wir Kinder waren. Heb mich hoch und löffle mir die Brühe in den Mund, sanft und mit ruhiger, freundlicher Hand. Aber sie weigerte sich, ihn um irgendetwas zu bitten. Lieber wollte sie Hunger oder sogar Durst ertragen, als Aramon um irgendwelche Gefälligkeiten bitten.
    »Hier«, sagte er. »Hier.«
    Er drückte seine Zigarette aus. Beugte sich über sie und half ihr, sich im Bett aufzurichten. Sie musste die Augen schließen, denn es war furchtbar, sein Gesicht so dicht über ihrem zu spüren. Sie sank wieder in die Kissen zurück. Aramon reichte ihr ein halb mit Wasser gefülltes Glas, und sie trank. Und dann drehte er sich um, und sie sah, wie er dastand, mit dem Rücken zu ihr, und das Zimmer betrachtete.
    »Es hat doch nie viel getaugt, dieses Haus, oder?«, erklärte er.
    Sie trank das Wasser, das lauwarm war. Sie begriff, dass sie ihren geblümten Kittel über einer blauen Bluse trug, dass da unterdem Kittel aber gar kein Rock zu sein schien. Sie konnte fühlen, dass sie mit den bloßen Beinen auf dem Laken lag. Aramon drehte sich wieder zu ihr und setzte sich auf den harten Stuhl neben dem Bett. Er holte tief Luft und atmete sie in einem langen Seufzer wieder aus. »Könnte man an einem Nachmittag abreißen«, erklärte er. »Die Wände sind nicht stabiler als Brot.«
    Audrun versuchte, ihre Gedanken wieder zu dem Tag zu lenken, der gerade verging oder schon vergangen war. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Marianne mit einer ihrer berühmten tartes au chocolat vorbeigekommen war, aber sie wusste nicht mehr genau, ob sie überhaupt davon gegessen hatten und ob das vielleicht sogar an einem ganz anderen Tag gewesen war.
    Audrun hatte das Gefühl, als hätte sie schon sehr lange nichts mehr in den Magen bekommen. Und jetzt konnte sie durch die offenen Vorhänge sehen, dass es Abend war.
    »Es sieht ja nun so aus«, sagte Aramon, »dass wir jetzt wissen, woran wir sind. Das macht das Gutachten klar.«
    Er schien darauf zu warten, dass sie sich äußerte, aber ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können, weil sie gar nicht wusste, wovon er redete.
    »Morgen rufe ich diese Maklerinnen an«, fuhr er fort.

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