Der unausweichliche Tag - Roman
die ihr zugedachte Mahlzeit auf dem Plastiktablett neben Lals Taschenbuchausgabe von Nachspiel: zwei Scheiben Schinken, die an den Rändern schon dunkel wurden, Krautsalat in einer essigsauren Salatmayonnaise …
In das Gefühl des Verlusts mischte sich jetzt auch Zorn, weil er aus lächerlichen Gründen in sein Auto geflüchtet und schnarchend in dieser Metallkiste hängen geblieben war. Dabei hätte er doch an Lals Seite sein, jeden einzelnen Atemzug gemeinsam mit ihr tun, ihr Tröster, der letzte Zeuge vom Ende ihrer Reise sein müssen. Dieses Versäumnis empfand er als unvorstellbar schrecklich. In gewisser Weise fast schrecklicher als die Tatsache ihres Todes selbst. Denn der Frevel war so unübersehbar: Er hatte seine geliebte Lal genau in dem Moment im Stich gelassen, als sie ihn am meisten brauchte, und es stand für ihn außerhalb jeder Frage, dass er sich das nie und nimmer verzeihen würde.
Selbstquälerisch malte er sich aus, wie sie womöglich noch seinen Namen gerufen und keine Antwort bekommen hatte. Vielleicht war sie sogar kräftig genug gewesen, um zu sagen: »Lies bitte weiter, Liebling. Lies mir das mit den Boxershorts vor. Das ist so wahnsinnig komisch.«
Und dann hatte sie auf die Fortsetzung gewartet, auf das Geräusch seiner Stimme, das sie getröstet hätte, doch es war nichts zu hören, und da wusste sie, dass sie allein war und dass nun alles dunkel wurde.
Das Geräusch eines startenden Autos weckte Anthony. Als er die Treppe hinunterkam, war Veronica allein. Sie kochte gerade Aprikosenmarmelade und summte bei der Arbeit.
Kitty war schon nach Béziers gefahren.
Er setzte sich an den Küchentisch, und Veronica brachte ihm ein frisches Croissant und eine Schale Kaffee, und dann betrachtete sie ihn auf ihre liebevolle, mütterliche Weise. »Anthony«, sagte sie munter, »Vielleicht ist das Haus, das du dir jetzt anschaust, ja das richtige.«
Er zuckte die Schultern, legte die Hände um die Kaffeeschale. Er war froh, dass er endlich mit V alleine war. Fast hätte er ihr seinen Traum mit Lal erzählt, doch er wusste, wie gereizt sie darauf reagieren würde.
Sein Handy klingelte. Es war Lloyd Palmer, und er klang ebenfalls munter. Sie haben es nicht gesehen, dachte Anthony, weder V noch Lloyd. Ihnen ist nie das Gesicht der alten hässlichen Frau auf dem Wandteppich aufgefallen, der eine schwarze Haarsträhne lose aus dem Gewebe hängt …
»Lloyd«, sagte Anthony mit neutraler Stimme. »Schön, dich zu hören.«
»Was ist los?«, fragte Lloyd. »Du klingst irgendwie krank.«
Verey, du siehst ja halb tot aus. Steh gerade, Junge!
»Nein. Mir geht es gut. Wie läuft’s in London?«
»Gut. Verdammt irres Wetter! Man könnte glauben, wir hätten Juni und nicht April. Benita kauft sich schon ihre Prada-Badekleidung. Und? Wie läuft’s in Frankreich?«
»Ganz gut. Ebenfalls heiß. Ich sehe mir heute ein weiteres Haus an.«
»Okay. Du hast also noch nichts gefunden, was du gern kaufen würdest?«
»Doch, ich hatte schon eins. Mit fantastischem Potenzial. Aber dann musste ich leider doch einen Makel feststellen.«
»Was meinst du mit ›Makel‹?«
»Eine hässliche Kate hat die Aussicht verdorben.«
»Okay, gut. Müsste ich selbst sehen. Hör zu, alter Junge. Bei unserem letzten Gespräch war ich wohl ein bisschen unflexibel in der Geldgeschichte. Natürlich bin ich bereit, Aktien für dichzu verkaufen, wenn du darauf bestehst. Ich würde versuchen, sie so gut wie möglich loszuschlagen, aber trotzdem wirst du scheißviel Verluste einfahren …«
»Im Moment musst du dir deswegen keine Gedanken machen, Lloyd«, sagte Anthony. »Wenn ich mich in irgendwas verliebe, rufe ich dich an.«
Dann redeten sie noch ein bisschen über England. Lloyd sagte, das Gras in Kensington Gardens werde schon braun von dieser extremen Frühlingshitze. Er sagte, er werde Benita zu ihrem Geburtstag einen Mercedes der neuen E-Klasse kaufen. Silbergrau. Er sagte, hoffentlich würden die Drogentypen von Ladbroke Grove das gute Stück nicht schon demolieren, ehe es überhaupt die ersten tausend Meilen drauf hatte.
Anthony beendete das Gespräch. Lloyd ist ein guter Mann, ein freundlicher Mensch im Grunde, dachte er; nur muss er einfach immer große Töne spucken.
Er wandte sich wieder seinem Kaffee zu, und Veronica rührte ihre Aprikosenmarmelade weiter um. Zwischendurch fragte sie ihn, was er sich zum Abendessen wünschte.
»Leber«, sagte er. »Lass uns Leber mit Kartoffelpüree essen, so wie Mrs.
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