Der unausweichliche Tag - Roman
Brigstock sie immer gemacht hat.«
Veronica kam zu ihm an den Tisch und küsste ihn auf sein lockiges Haar.
»Du musst die Vergangenheit hinter dir lassen, mein Lieber«, sagte sie.
»Wieso?«, erwiderte er. »Dort gefällt es mir doch.«
Anthony stand vor dem Spiegel der Frisierkommode in seinem Schlafzimmer und betrachtete sich. Durch das nahe Fenster fiel das helle Tageslicht direkt auf ihn, und er musterte die Falten in seiner Stirn und den schmalen Schlitz, zu dem sein verkniffener Mund geworden war.
Er dachte an Dirk Bogarde als Aschenbach in der Verfilmung von Thomas Manns Tod in Venedig , daran, wie er sich dasHaar färbte und die Lippen tönte, damit … damit was ? Damit der exquisite Knabe Tadzio seinen Blick ein klein wenig länger auf ihm ruhen ließ? Damit seine eigene sichtbare Vergänglichkeit sie beide, ihn selbst und Tadzio, nicht auf so peinliche, lähmende Art verletzte?
Anthony erkannte, dass das Gesicht im Spiegel viel zu alt war, um für Nicolas Sardi attraktiv zu sein. Selbst wenn es ihm gelänge, einen Raum von außergewöhnlicher Schönheit (in einem Haus von außergewöhnlicher Schönheit) zu gestalten, wo er den jungen Mann empfangen könnte, würde Nicolas niemals seinen Fuß über dessen Schwelle setzen, weil er, Anthony, von der Zeit viel zu beschädigt, mit zu vielen Makeln behaftet war, um für Nicolas interessant zu sein.
Er untersuchte seine Zähne, die die Farbe von Bienenwachskerzen hatten. Sollte er sich eine teure Weißmacher-Behandlung leisten, wenn er wieder in London war? Oder würde dieser kostspielige Schritt nur beweisen, dass er genauso jämmerlich eitel war wie Aschenbach mit seinem gefärbten Haar?
Er drehte sich weg und streckte den Rücken. Zumindest war das Verlangen zurückgekehrt.
Das war doch der erste Schritt zu etwas Neuem, oder etwa nicht? In seiner imaginierten New Yorker Nacht hatte er sich wunderbar lebendig und potent gefühlt.
I mmer wenn Aramon früh morgens zu dem kleinen Gemischtwarenladen in La Callune ging, und das tat er vielleicht zweimal die Woche, kaufte er eine Ausgabe der Lokalzeitung Ruasse Libre.
Zurück im Mas Lunel, kochte er sich einen Kaffee, setzte seine Brille auf, breitete die Zeitung auf dem Tisch aus und verbrachte den restlichen Morgen damit, sie von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Wenn er Glück hatte, gab es irgendeine packende Mordgeschichte als Krönung der ansonsten ganz und gar alltäglichen Artikel: ein erneuter Protest von Bauern gegen die hohen Dieselpreise; der erste genetisch veränderte trockenheitsresistente Mais in der Region; Berichte über die Feste, Stierkämpfe, Popkonzerte, Kunstausstellungen, boule- Meisterschaften und Flohmärkte in der Gegend; Meldungen über die Pegelstände der Flüsse, Waldbrände, Campingplatz-Belegzahlen und den rückläufigen Vorschulbesuch …
Es amüsierte Aramon, dass die Welt sich noch immer so aufgeregt drehte in ihrem sinnlosen Bemühen. Ihn erheiterte die Vorstellung von Menschen, die über einen Flohmarkt irrten, beschädigte Bücher, Messingschmuck und allerlei Geschirr kauften, wo sie doch, so wie er, zu Hause bleiben und ihr Geld hätten sparen können.
Manchmal überlegte er, ob er sich eine Eintrittskarte für einen Stierkampf kaufen sollte. Früher hatte er die Atmosphäre von Angst und den ohrenbetäubenden Krach von in der Sonne funkelnden Blechinstrumenten genossen. Die Tapferkeit der Stiere, die Tatsache, dass sie nie aufgaben, auch wenn ihnen bereits das Blut über den Nacken strömte – all das hatte ihn immer irgendwie berührt. Doch seit einigen Jahren fand er die Matadore nur noch lächerlich mit ihrem protzigen Stolz und ihren paillettenbesetzten Ärschen. Inzwischen sähe er es amliebsten, wenn der Stierkämpfer vom Stier getötet und der Mann dann durch den Staub zum Schlachthof geschleppt würde …
Heute fiel ihm eine Überschrift auf der Titelseite des Ruasse Libre ins Auge: Bürgermeister erklärt: Verdrängung der Einheimischen durch Ausländer muss aufhören . Eine Grafik zu dem Artikel illustrierte den Anstieg der Immobilienpreise in den Cevennen innerhalb der letzten zehn Jahre. Der sei vor allem den »Ausländern« zu verdanken, hieß es, und der Bürgermeister von Ruasse wurde mit folgenden Worten zitiert:
Jetzt reicht es uns und unserer wunderschönen Region. Die Übergriffe sind nicht mehr hinnehmbar. Der Verkauf von Grundstücken an nichtfranzösische Staatsbürger muss dringend überprüft und womöglich
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