Der unausweichliche Tag - Roman
Kamera. Eine Locke fiel ihm jugendlich forsch über ein Auge. Sein sinnlicher Mund war leicht geöffnet und offenbarte die gepflegten weißen Zähne eines verwöhnten und vergötterten Knaben.
Anthony starrte das Foto an. Er wusste, dass ihm buchstäblichdie Kinnlade heruntergefallen war, und er schloss den Mund rasch wieder. Er bekam kaum Luft. Am liebsten hätte er geflüstert: »Das ist es, was ich unter Schönheit verstehe. Dieses Gesicht verkörpert Anmut und Liebreiz für mich …« Aus der gerade noch zu erahnenden Ähnlichkeit mit Guy – vor allem in den schläfrigen Augen mit den langen Wimpern – schloss Anthony, dass dies wohl der Sohn der Sardis war. Er musste etwa fünfundzwanzig sein. Er trug ein ganz normales weißes T-Shirt und hatte für die Aufnahme wahrscheinlich nicht einmal richtig posiert … sich nur zum Fotografen hingedreht und gelächelt und genau gewusst, dass dieses Lächeln alles ausdrückte – die ganze unverbrüchliche Gewissheit einer wunderbaren, glanzvollen Zukunft. »Fangt mich ein«, sagte es, »bevor ich davonfliege und euch alle unter mir zurücklasse …«
Marie-Ange, die allgegenwärtige Gastgeberin, tauchte neben Anthony auf. Hinter ihnen wurde das Geplauder im salon immer lebhafter und deutete darauf hin, dass weitere Personen erschienen waren, und tatsächlich war Anthony sich auch nicht sicher, wie lange er das Foto des jungen Mannes angestarrt hatte. Er befürchtete, Marie-Ange könnte es unhöflich oder bestenfalls leicht verschroben finden, dass er diese Cocktailstunde dazu nutzte, den persönlichen Besitz der Sardi-Familie zu inspizieren. Doch ihre Stimme klang zum Glück amüsiert und freundlich, als sie sagte: »Sie haben also Nicolas entdeckt. Ich habe das Foto im letzten Sommer hier im Garten gemacht.«
»Ihr Sohn?«
»Ja.«
»Er sieht sehr … gut aus. Schön sogar. Er ist sehr schön.«
Marie-Ange blickte voller Liebe auf das Foto. Sie streckte die Hand aus und berührte die Haarlocke des jungen Mannes.
»Zur Zeit dreht er einen Film. Er ist erst vierundzwanzig und dreht schon seinen ersten Spielfilm. Guy und ich sind beide ziemlich hingerissen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Anthony. »Auch ich bin hingerissen.«
»Kommen Sie«, meinte Marie-Ange, »Sie müssen jetzt die anderen kennenlernen. Die meisten unserer Freunde sind Rechtsanwälte oder Bankiers, weshalb auch alle Englisch sprechen.«
Rechtsanwälte und Bankiers.
Die Welt ist so öde, dachte Anthony. So entnervend langweilig. So voll von all dem, was man schon tausendmal gesehen und was einen noch nie ergriffen hat und es auch niemals wird. Und trotzdem geht es immer so weiter …
Mit ihrer Hand auf Anthonys Arm lenkte Marie-Ange ihn zu der geräuschvollen Gruppe etwas älterer Gäste, die ihren Champagner schlürften. Er musste es sich gefallen lassen, entführt zu werden, konnte aber nicht umhin, einen letzten Blick auf das Foto von Nicolas zu werfen.
Komm zu mir , stammelte sein Herz. Such mich und finde mich, Nicolas. Gib mir mein Leben zurück.
W enn man allein lebt, dachte Audrun, wenn man vierunddreißig Jahre lang allein gelebt hat, fällt es einem schwer, die Anwesenheit eines Fremden im oder nahe beim eigenen Haus zu ertragen. Man kann gar nicht anders, als sich all das Schreckliche vorzustellen, wozu dieser Fremde in der Lage ist.
Audrun kochte Kaffee für den Landvermesser, während der sich auf die Suche nach den Grenzsteinen machte. Mit ihren Gedanken war sie nicht beim Kaffee, sondern bei den Füßen des Vermessers, die da draußen hin und her liefen. Sie wusste, was diese Füße tun würden: Sie würden Blumen niedertrampeln, das glänzende neue Gras plattdrücken, den Kies aufscharren, in dem Gemüsegärtchen herumstapfen, Spuren in der Erde hinterlassen.
Grenzsteine.
Sie erklärte dem Landvermesser, einem Monsieur Dalbert, dass er keine finden werde. Sie sagte, er werde nie und nimmer welche finden. Weil die Dinge früher nicht so gehandhabt worden seien.
Einst hatte ein Stall auf diesem Grundstück gestanden, und ein graubrauner Esel war dort im Dunkeln angebunden. In Audruns Kindheit hatte Serge ihn manchmal losgemacht, und er hatte dagestanden und ins Tageslicht geblinzelt, während Serge ihm Kiepen auf den Rücken gebunden hatte, die er mit Holz oder Zwiebelsäcken belud. Audrun konnte sich noch erinnern, wie sie die Hände vorsichtig über die Augen des armen Esels gehalten hatte. Später dann, als Serge gestorben war, hatte Aramon ihr erklärt: »Du
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