Der unausweichliche Tag - Roman
entgegenkommenden Fahrzeugen, auf dem er entlanglaufen musste, kam ihm so gefährlich schmal vor, dass er sich zwangsläufig ausmalte, wie ihm die Füße breitgefahren wurden. Er bekam Herzflattern vor Panik, Schweiß lief ihm den Nacken hinunter, aber die Alternative, ohne Sandwich weiterzufahren, war mittlerweile unvorstellbar. Dieses Sandwich war zu etwas geworden, das ihm durch den Tag helfen würde, überhaupt durch alles, was noch kommen mochte. So trottete er dicht an der Felswand entlang weiter. Die Autofahrer starrten ihn an – diesen älteren Touristen, der da an einer Stelle zu Fuß unterwegs war, wo man eigentlich nicht gehen durfte. Aber Anthony scherte das nicht; er wollte einfach nur sein Sandwich.
Und endlich war er da. Er erkannte den korpulenten, robust wirkenden Besitzer wieder, der sich gerade mit dem Lastwagenfahrer unterhielt. Die beiden Männer schienen alte Freunde zu sein. Und nach einem Witz brachen sie plötzlich in wildes Gelächter aus. Der Kioskbesitzer wischte sich den Mund mit einem roten Taschentuch und fragte nur widerwillig nach Anthonys Wünschen.
» Alors, Monsieur?«
Beim letzten Mal hatte er sich für Camembert und Tomate entschieden, da er Schinken oder Wurst wegen seiner Furcht vor einer Lebensmittelvergiftung nicht riskieren mochte. (Er wusste, dass seine Mäkeligkeit schon fast neurotisch war, aber das war ihm egal. Immerhin kannte er eine Frau, die nach dem Verzehr von Sushis gestorben war. Wieso sollte das also nicht auch mit schlecht gekühlter Salami möglich sein?) Er musterte die Auswahl und zeigte schließlich auf den Cambembert.
»Deux comme ça, s’il vous plaît, Monsieur.«
Er sah, wie die breite, braune Hand nach den Sandwiches griff und jedes in Zellophanpapier mit der Aufschrift La Bonne Baguette: que c’est bonne! w ickelte. Und er sah, wie seine eigene Hand zitterte, als er mit dem Portemonnaie herumfummelte.
Zurück im Wagen, stellte Anthony die Klimaanlage auf sechzehn Grad herunter und wartete einen Moment, bis der Renault sich abgekühlt und sein Puls sich beruhigt hatte.
Dann fuhr er weiter und erreichte rasch die Abzweigung zu der schmalen Straße, die über einen Seitenarm des Gardon führte und nach Westen, hoch in die Berge schwenkte. Schon bald begann der auf der Landkarte angedeutete Zickzackkurs, und Anthony zwang sich, Ruhe zu bewahren, während er den Renault langsam um die unmöglichsten Haarnadelkurven manövrierte. Die Straße war jetzt zu beiden Seiten von Kiefern gesäumt, die so dicht standen, dass darunter in der Dunkelheit nichts anderes wuchs. Um sich von den Gefahren der Straße abzulenken, ließ Anthony seine Gedanken zurück in die Kindheit schweifen, zu einer Erinnerung, die auch mit Kiefern zu tun hatte.
Raymond, Lal, Anthony und Veronica waren in Raymonds Rover unterwegs zu einer Mittagseinladung in der Nähe von Newbury, als Lal plötzlich auf eine von der Forstverwaltung angelegte Kiefernplantage aufmerksam wurde. Sie rief: »Seht euch das an! Raymond. Kinder. Seht doch nur, was die machen: die bauen jetzt Bäume an. Entsetzlich! Ich finde das absolut entsetzlich.«
»Die werden als Baumaterial benötigt, Liebling«, sagte Raymond. »Für Bretter und so weiter.«
»Es ist mir egal, wofür. Sie sollten Bäume nicht so anbauen. In Südafrika haben sie das nie gemacht, und wir hatten trotzdem reichlich Bretter.«
Und damit gab es etwas Neues, worüber Anthony sich Sorgen machen musste: dass Lals Auge womöglich auf angebauteBäume fiel und ihre Stimmung dann kippte – dass sie mürrisch und spitz wurde und ihre Wahlheimat, die doch seine einzige Heimat war, nicht mehr mochte.
Er hätte damals gern etwas Amüsantes gesagt, etwas, das ihre Irritation zerstreut hätte, aber es war ihm absolut nichts Amüsantes eingefallen, und sie waren stumm weitergefahren, bis Veronica – unklugerweise, wie sich herausstellte – die Bemerkung wagte: »Mama, eigentlich kannst du das Wort ›anbauen‹ nicht im Zusammenhang mit Bäumen benutzen: Das sind Douglaskiefern, Pseudotsuga menziesii , sie werden in ganz Europa auf Plantagen angepflanzt.« Und Lal hatte sich mit dem Zigarettenanzünder des Autos eine Peter Stuyvesant angesteckt und, ohne sich umzudrehen, sehr ruhig gesagt: »Veronica, wieso bist du so eine nervige, fette, kleine Besserwisserin?«
Ein grauenhafter Lachanfall hatte Anthony geschüttelt. Er hatte nicht lachen wollen, weil das, was Lal gerade gesagt hatte, schrecklich war. Schrecklich . Er hatte sich die
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