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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wusste, dass Melissa » das Unvergessliche « nicht durchgehen lassen würde, aber auch hier hatte Veronicaim Moment keine Idee, wie sich der Ausdruck durch eine elegantere Formulierung ersetzen ließ, die den Satz klarer und entschiedener abschloss.
    Es wäre doch sehr praktisch, sinnierte sie, wenn Melissa jetzt hier wäre, vielleicht dort auf den Kissen der Chaiselongue läge, so dass Veronica ihr alles Satz für Satz vorlesen könnte und sofort das zurückbekäme, was Melissa häufig als »doch nur einen klitzekleinen Beitrag des Lektorats, Veronica« beschrieb. Auf diese Weise würde das Kapitel »Dekorative Kiessorten« morgen bei Kittys Rückkehr bestimmt schon sehr weit gediehen sein.
    Veronica hob den Kopf. Ihr Blick fiel auf die Reiseuhr im Messinggehäuse (ein teures Geschenk von Anthony) auf ihrem Kaminsims. Es war kurz vor eins. Die Zeit schien einen plötzlichen Hopser nach vorn getan zu haben. Kitty hatte versprochen, gegen elf anzurufen, um zu melden, dass sie sicher in Béziers angekommen sei, aber es hatte keinen Anruf gegeben.
    Veronica griff nach dem Telefon und wählte Kittys Handynummer. Sie wurde sofort mit der Mailbox verbunden und hörte Kittys schroffe, leicht beleidigt klingende Stimme: »Kitty Meadows. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht. Vielen Dank. Veuillez laisser un message, s’il vous plaît. Merci.«
    »Kitty«, sagte Veronica. »Ich bin’s, Liebling. Es geht dir hoffentlich gut. Ich denke an dich und drücke dir die Daumen für die Galeriegeschichte. Ich habe das sichere Gefühl, dass sie ja sagen werden. Hätte fast schon Champagner im Dorf gekauft, aber das hätte womöglich das Schicksal herausgefordert. Bei uns ist jedenfalls alles in Ordnung. Ich sitze hier friedlich und allein und arbeite an dem Kies-Kapitel. Ruf mich an, wenn du Zeit hast. Küsschen.«
    Sie versuchte, sich wieder auf das Schreiben zu konzentrieren, und begann einen Satz darüber, dass es nicht ratsam sei, ein Kiesbett gegen Unkraut mit Plastikfolie auszulegen. Bevor Sie sich dafür entscheiden , schrieb sie, bedenken Sie das drohende Risiko von Staunässe und Überflutung in der Regensaison und die … Unddann brach sie ab, plötzlich ganz beklommen, weil sie Kitty nicht erreicht hatte.
    Kittys Auto war alt und klein. Und selbst in diesem winzigen Gefährt klebte sie immer fast am Lenkrad, während sie sich bemühte, mit ihren kurzen Beinen an die Pedale zu kommen. Sie war eine beherzte Fahrerin, aber wenn Veronica sich ausmalte, wie die kleine Kitty im Kielwasser hochnäsiger Audis und Mercedes-Karossen und im Schlagschatten jede Sicht verstellender Containerfahrzeuge über die Autobahnen ratterte und rumpelte, dann begann ihr Herz vor Entsetzen zu stolpern.
    Sie stand von ihrem Schreibtisch auf und trat auf die Terrasse. Die Sonne brannte ihr heiß ins Gesicht, und bei einem langsamen Rundgang durch den vom feuchten Winter und ersten Frühling noch grünen Garten begriff sie, dass jetzt wieder die Zeit begann, in der vieles von dem, was hier wuchs, erneut durch die Trockenheit gefährdet war. Und diese Gefahr war nur durch ihre Wachsamkeit, ihre eigene und Kittys, halbwegs in Schach zu halten. Sie kam zu dem alten steinernen Brunnen, hielt sich gut am Rand fest und blickte hinein. Sie sah, dass der Wasserspiegel schon gesunken war.
     
    Zu Mittag aß Veronica ein Stück tarte aux oignons mit Salat und machte sich erneut ans Schreiben. Im Laufe des Nachmittags hinterließ sie Kitty zwei weitere Nachrichten, doch es erfolgte kein Rückruf. Sie versuchte, sich damit zu beruhigen, dass Kittys Handy immer noch funktionierte. Dann konnte das Gerät – und also auch Kitty – nicht bei einem Unfall zerschmettert worden sein.
    Sie wünschte, der Nachmittag ginge endlich vorbei – damit Anthony zurückkehrte und sie ihre Besorgnis wenigstens mit jemandem teilen konnte –, doch ebenso sehr wünschte sie, dass er nicht vorbeiging , wünschte, dass es nicht später wurde , denn andernfalls würden sich die Gründe für ihre Besorgnis von Stunde zu Stunde vermehren.
    Sie fühlte sich regelrecht gelähmt durch diesen Konflikt mit der Zeit, und schließlich ertappte sie sich dabei, wie sie vollkommen regungslos mitten in der Küche stand, ohne die leiseste Neigung, sich in die eine oder andere Richtung zu bewegen oder eine Arbeit in Angriff zu nehmen. Ohne es richtig zu merken, begann sie zu weinen. Sie wusste, dass das albern war, und dennoch überließ sie sich den Tränen, fand sie auf seltsame Weise der

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