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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Situation angemessen. Sie riss ein Blatt von der Küchenrolle, vergrub ihr Gesicht darin und stellte fest, dass ihre Tränen warm, beinah heiß waren, heiß wie Blut.
    Jetzt klingelte das Telefon.
    Veronica putzte sich die Nase und rannte zum Apparat. Sie war sicher, dass es Kitty war, und schon kam sie sich lächerlich vor mit den grundlosen heißen Tränen, die ihr über die Wangen liefen, und als sie »Hallo« sagte, versuchte sie ihre Tränen zu unterdrücken. Aber es war nicht Kitty. Es war Madame Besson.
    »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Madame Besson auf Englisch. »Könnte ich Monsieur Verey sprechen?«
    »Monsieur Verey ist nicht da«, sagte Veronica.
    Das Sprechen schien eine neue Welle von Panik in ihr auszulösen. Also ist Kitty tot. Diese Stimme gehört nicht ihr. Kitty liegt tot in ihrem zerbeulten kleinen Auto …
    »Ach so«, sagte Madame Besson. »Okay. Es tut mit leid, dass ich Sie gestört habe.«
    Veronica merkte, dass Madame Besson auflegen wollte, und sagte rasch: »Stimmt irgendetwas nicht, Madame Besson? Hat mein Bruder das Haus besichtigt?«
    Madame Besson räusperte sich. »Er hat die Schlüssel um elf Uhr abgeholt«, sagte sie. »Er sagte, er werde sie um zwei zurückbringen. Aber er hat sie nicht gebracht, und jetzt möchte ein Ehepaar gern dieses Haus besichtigen.«
    »Oh«, sagte Veronica. »Nun, das tut mir leid. Ich glaube, er wollte da oben noch einen Spaziergang machen …«
    »Ja? Aber er sagte, er würde um zwei Uhr wieder hier sein, und jetzt ist es fast fünf.«
    Veronica schloss kurz die Augen. »Ich werde Anthony anrufen«, sagte sie. »Er hat sein Handy dabei.«
    »Vielen Dank«, sagte Madame Besson. »Ich bin noch eine halbe Stunde im Büro. Bitte sagen Sie Ihrem Bruder, er möchte mir morgen früh die Schlüssel bringen. Ich habe nur das eine Paar, und die Besitzer sind in der Schweiz.«
     
    Als Veronica Anthonys Handy anwählte, blieb es stumm.
    Sie wählte ein zweites Mal, mit demselben Ergebnis: kein Piepton, kein Klingeln, kein Garnichts. Nur Schweigen.
    Veronica kochte sich einen Pfefferminztee, setzte sich an den Küchentisch und trank Tee in kleinen Schlucken. Jetzt hatte sie nicht mehr das Bedürfnis zu weinen. Ihr war schlecht, und sie hoffte, mit dem Tee würde es besser. Bei der Vorstellung, sie müsste die Kalbsleber und die lardons zubereiten, musste sie würgen.
    Kaum hatte sich die Übelkeit ein wenig gelegt, fühlte Veronica sich schlagartig erschöpft und schlich sehr langsam in ihr Schlafzimmer. Sie starrte auf das Kissen neben ihrem, dem Ort, wo stets Kittys Kopf lag. Sie streckte die Hand aus, nahm das Kissen, presste es an sich und schloss die Augen.
     
    Als sie erwachte, war das Zimmer schon in Dunkelheit gehüllt, noch nicht in schwarze Nacht, aber in blaue, einsam machende Dämmerung. Dann begriff sie, dass da plötzlich ein durchdringendes Geräusch war. Das Telefon. Immer noch etwas schlaftrunken, griff Veronica danach, hielt den Hörer einfach nur ans Ohr und wartete auf das, was ihr mitgeteilt würde.
    »Veronica«, sagte Kitty. »Ich bin’s.«
    Ein Gefühlt von Erleichterung durchströmte sie, fast so schön wie sexuelle Entspannung. Doch sofort folgte der Zorn, und Veronica begann Kitty anzuschreien: Wieso hatte sie nicht angerufen oder eine SMS geschickt oder ihre Box abgehört? Sie sei halb verrückt vor Sorge gewesen! Wie hatte Kitty das zulassenkönnen? Wie konnte sie nur so egoistisch und so fantasielos sein?
    »Es tut mir leid«, sagte Kitty. »Es tut mir leid …«
    »Aber WIESO?«, schrie Veronica. »Du hast doch gesagt, dass du anrufst. Ich habe dir tonnenweise Nachrichten hinterlassen. Ich dachte, du bist tot !«
    »Es tut mir leid«, wiederholte Kitty. »Ich konnte nicht anrufen. Auch keine SMS schicken. Es ging einfach nicht.«
    »Was soll das heißen: ›Es ging einfach nicht‹?« Und überhaupt klingst du irgendwie betrunken. Was ist passiert?«
    »Nichts ist passiert«, sagte Kitty. »Das ist es ja. Gar nichts. Und ja, ich bin ein bisschen betrunken. Ich bin in einem Hotel.«
    »In einem Hotel? Was redest du da? Ich dachte, du schläfst bei André und Gilles.«
    »Ja. Aber dem fühlte ich mich dann nicht mehr gewachsen … Ich habe sie angerufen …«
    »Kitty, was um Himmels willen …«
    »Zwing mich nicht, es zu sagen, Veronica. Zwing mich nicht dazu.«
    »Was zu sagen?«
    »Zwing mich nicht!«
    Veronica schwieg.
    Sie merkte, wie all ihr Ärger verflog, und sie verfluchte sich dafür, dass sie nicht schneller

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