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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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begriffen hatte, was passiert war. Dann sagte sie ruhig: »Gut. Dann sage ich es. Die Galerie hat dich abgelehnt.«
    Veronica schwang die Beine aus dem Bett. Durchs Fenster sah sie, dass der Himmel noch dunkler geworden war. Sie konnte Kitty schluchzen hören.
    »Kitty«, sagte sie, »es gibt auch noch andere Galerien. Hörst du. Es gibt Hunderte von Galerien, die wir ansprechen können.«
    Nachdem Kitty zerknirscht und ein wenig getröstet versprochenhatte, etwas zu essen und sich dann schlafen zu legen, beendete Veronica das Gespräch und ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, wo alles dunkel und ruhig war. Die Uhr zeigte kurz vor zwanzig Uhr. Sie holte die Kalbsleber aus dem Kühlschrank, wickelte sie aus und schnitt sie in dünne Scheiben. Zwischendurch schaute sie immer wieder nach draußen, weil sie glaubte, Anthonys gemieteten Renault zu hören, der die bekieste Auffahrt heraufkam, aber es tauchte kein Auto auf.

A udrun wusste, dass sie die Dinge jetzt ruhig und bedachtsam und in der richtigen Reihenfolge erledigen musste.
    Als Erstes packte sie all ihre Kleidungsstücke in die Waschmaschine und wählte ein langes, heißes Programm. Sie versuchte, nicht mehr an die andere Waschmaschine zu denken, jene alte amerikanische, die sich vor langer Zeit im Fifth Helena Drive gedreht hatte, aber sie wurde das Bild einfach nicht los.
    Als Nächstes ließ sie ein Bad ein und wusch sich von Kopf bis Fuß, auch das Haar, schrubbte die Badewanne anschließend mit einem Scheuermittel und brauste sie dann so lange ab, bis sie glänzte.
    Als ihre Haare trocken waren, zog sie sich eine Strickjacke über und ging in ihren Wald. Sie pflückte ein paar Glockenblumen, stellte sie zu Hause in ein Glas, bewunderte sie und sog ihren Duft ein. Dann stieg sie in ihr kleines, rostiges Auto und fuhr hinunter ins Dorf. Sie klopfte an Mariannes Tür.
    Auf der Straße sah sie Jeanne Vialas Renault stehen. Ruhig betrat sie das Haus und begrüßte Marianne und ihre Tochter. Sie sah, dass Marianne so zufrieden strahlte wie immer, wenn Jeanne zu Besuch war, und sie dachte, wie schön es gewesen wäre, eine Tochter zu haben – die Tochter von jemandem, den sie liebte. Raoul Molezon hatte zwei erwachsene Töchter von seiner Frau Françoise, und Audrun hatte niemanden.
    »Ich möchte euch nicht stören«, sagte sie. »Ich wollte nur auf ein petit bonjour vorbeikommen.«
    »Du störst uns doch nicht«, sagte Jeanne. »Komm rein und setz dich.«
    Sie küssten sich, erst auf die eine Wange, dann auf die andere, dann wieder auf die erste – mit jenem Dreifachgruß, den die Menschen des midi seit jeher bevorzugten. Dann setzten sie sich an den Küchentisch. Marianne brühte gerade Schnecken ab –jedes Mal, wenn Jeanne nach La Callune kam, wünschte sie sich diese Delikatesse. Jeanne war jetzt dreißig und liebte ihre Arbeit als Lehrerin in Ruasse. Sie sah wie eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter aus, schlank und dunkel, mit einem freundlichen, stillen Lächeln.
    »Wie führen sich Schulkinder denn heutzutage so auf ?«, fragte Audrun. »Ich kenne überhaupt keine Kinder mehr. Erzähl mir, wie sie sind.«
    Jeanne löste den Schildpattkamm, der ihre Haare zurückhielt, nahm sie mit einer Hand hoch und steckte sie wieder fest. Irgendwann, dachte Audrun, vor allem, wenn kein Ehemann aufkreuzt, keiner, der wirklich nett ist –, wird Jeanne ein strenges Gesicht bekommen.
    »Sie sind sehr unruhig«, sagte Jeanne. »Man kriegt sie nur mit Mühe dazu, sich für mehr als ein paar Minuten auf eine Sache zu konzentrieren.«
    »Das habe ich auch schon gehört«, sagte Audrun. »Könnte es vielleicht die Stadt sein, die sie so zappelig macht?«
    »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich sind Computerspiele, das Fernsehen und all das, was sie sonst noch zu Hause treiben, mit ein Grund. Aber vor allem haben sie keine Ahnung von Geschichte, weshalb sie manchmal gar nicht begreifen, was sie da vor Augen haben. Es schockt mich immer wieder, wie schlecht sich einige in unserer Region auskennen. Sie sind hier geboren, aber von deren Vergangenheit wissen sie kaum etwas.«
    »Nun ja«, sagte Audrun, »diese Vergangenheit ist ja auch so lang …«
    »Stimmt«, sagte Jeanne. »Sie haben zum Beispiel nur eine vage Vorstellung davon, was einst in den Cevennen alles produziert wurde. Ich kümmere mich gerade um eine Besichtigung von einer Olivenölfabrik und dem Museum der Cévenoler Seidenproduktion. Sie sollen lernen, wie die Raupen gezüchtet wurden und was es mit den

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