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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ließ die Zeitung sinken und blickte sich um, ohne zu wissen, wonach er suchte. Aber er wusste, dass er wachsam sein und sich weiter umsehen musste … als könnte es irgendetwas geben – in dem verwüsteten Hundezwinger oder in der Art, wie die Steineichen sich im heißen Wind bewegten –, das seine gestörte Erinnerung zurechtrütteln würde. »Noch mal herkam?«
    »Ja. An dem Tag …«
    »An welchem Tag?«, fragte Aramon.
    »Am Dienstag. Dem Tag, an dem er verschwunden ist.«
    »Er ist nicht noch mal hergekommen.«
    Er sah, wie seine Schwester den Kopf schüttelte. So hartnäckig schüttelte, als würde sie ein Kind schelten.
    »Du behauptest also, dass ich verrückt bin«, sagte sie. »Jetzt verlierst du den Verstand. Ich habe dich doch gesehen , Aramon. Ich habe mich für dich geschämt, weil du so ein Bauer warst in deinen dreckigen Arbeitssachen neben diesem elegant gekleideten Herrn.«
    »Mich gesehen …?«
    Audrun entfernte sich von ihm. »Am Fluss«, sagte sie. »Mit Verey.«
    »Wann?«, schrie er hilflos.
    »Dienstagnachmittag. Übrigens, der Kadaver stinkt. Du solltest ihn rasch begraben.«
    Aramon schaute auf den toten Hund. Er hatte Verletzungen am Hals und am Bauch. An den Rändern der Wunden waren Bissspuren im Fleisch zu sehen. Die Fliegen waren schon wieder da und krabbelten darauf herum. Und hinter Aramon bellten die Hunde immer noch, und er wusste, er musste ihnen Wasser bringen, er musste den Zwinger säubern und sie mit Futter versorgen, denn es war schändlich, Tiere so leiden zu lassen …
    »Audrun«, sagte er, »hilf mir …«
    Doch sie ging einfach weiter.
     
    Er kehrte ins Haus zurück und rief Madame Besson an. Er versuchte sich zu beruhigen: So dumm oder so betäubt von Schmerzen war er noch nicht, dass er nicht zumindest etwas von dem, was so verwirrend war, zurechtrücken konnte. Madame Bessons Tochter nahm ab und erklärte, ihre Mutter sei mit einem Kunden unterwegs.
    »Verey«, sagte Aramon. »Dieser Engländer soll verschwunden sein. Er hat mein Haus nur einmal besichtigt. Nicht zweimal. Er war nur einmal da.«
    Die Tochter schwieg. Nach einer Weile sagte sie: »Da bin ich leider überfragt. Sie werden das mit meiner Mutter klären müssen. Und ich glaube, sie hat noch jemanden an der Hand, der das Mas gern sehen möchte.«
    »Ja?«
    Sofort hob sich Aramons Stimmung. Die gewaltigen Summen, die der Verkauf versprach, hörten sich in seinem Kopf wie Musik an, wie der schöne alte Jazz, den sein Vater gespielt hatte, als Bernadette noch lebte: 475 000 Euro … 600 000 Euro … Die Zahlen tanzten und funkelten. 650 000 Euro! Herr Gott noch mal, das Haus und das Land machten ihn doch inzwischen regelrecht krank. Er war zu müde, um solch eine Last noch zu schultern. Wenn sie ihm nicht bald genommen wurde, würde er sterben.
    »Ich werde meine Mutter bitten, Sie anzurufen«, sagte die Tochter.
    »Wann?«, fragte Aramon.
    »Heute Nachmittag, wenn sie zurückkommt.«
    Aramon drehte sich eine Zigarette, sank auf einen Stuhl und rauchte, bis der Schmerz in seinen Eingeweiden ein wenig nachließ. Dann ging er nach draußen und begann, ein Grab für den Hund zu schaufeln. Als er mit der Spitzhacke ausholte und sie auf die Erde niedersausen ließ, spürte er ihr Gewicht und den Schmerz im ganzen Körper.

V eronica lag wach in der Dunkelheit.
    Sie fand es seltsam, dass die Nacht so still sein konnte, obwohl Anthony doch verschwunden und vielleicht sogar tot war. Sie wünschte, die Welt da draußen würde mit hellem Scheinwerferlicht und viel Getöse nach ihm suchen. Fast glaubte sie zu hören, wie er sie rief: Bitte hilf mir, Liebes. Ich sitze fest. Ich sterbe …
    Es wurde so unerträglich, dass Veronica aufstand, ihren Morgenmantel anzog und ihn fest zuschnürte, um den Geruch von Sex, der noch an ihr haftete, zu verdecken. Sie ging in die Küche, trank kaltes Wasser aus dem Hahn, spritzte sich etwas ins Gesicht und stand dann da und starrte, über ihr eigenes Verhalten bestürzt, vor sich hin. Denn was hatte sie, angesichts der sich anbahnenden Tragödie, getan? Sie hatte die Polizei geholt, ihnen die Fakten dargelegt und ein paar Fragen beantwortet, um dann mit Kitty wie wild im Bett herumzumachen – so wild wie noch nie. Allmächtiger! Warum musste menschliches Verhalten oft so schockierend unangemessen sein? Veronica hielt sich eigentlich für »zivilisiert« – für eine zivilisierte Frau, deren Freundlichkeit ebenso geschätzt wurde wie ihr stoischer Gleichmut. Jetzt stellte

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