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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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zu tun …«
    »Ich habe ein ganz schreckliches Gefühl, Kitty. Da oben in den Cevennen passieren dauernd Unfälle. Die Leute fahren viel zu schnell, und Anthony kommt mit diesen Bergstraßen nicht zurecht. Ich sitze hier und warte die ganze Zeit und denke immerzu, ich sehe Scheinwerfer, aber es sind nur Autos auf der Straße nach Uzès. Was soll ich bloß machen?«
    Kitty nahm einen Schluck Wasser und schwang sich aus dem Bett. Das Licht der pharmacie setzte sein grünes Begrüßungsblinken gnadenlos fort: W ir helfen Ihnen, wir helfen Ihnen, wir helfen Ihnen …
    »Wir müssen klar denken«, sagte Kitty, hatte aber gleichzeitig mit dem Alkohol in ihrem Blut und dem Film über das abstürzende Auto, der sich in ihrem Kopf abspulte, zu tun.
    Anthony Verey tot.
    Endlich tot.
    Kitty fragte sich, ob Veronica wohl aus ihrer Stimme und der Art, wie sie atmete, ihre hektische Aufregung heraushören konnte.
     
    Kitty frühstückte kurz nach Tagesanbruch und fuhr nach Hause. Kopfschmerzen machten ihr das Sehen schwer, fast als wäre die Windschutzscheibe eigenartig milchig verschleiert. Sie sehnte sich nach Tee und tiefem Schlaf.
    In der Auffahrt zu Les Glaniques stand ein Streifenwagen der Polizei. Eine sehr blasse Veronica mit seltsam wirren Haaren sprach im Salon mit zwei agents , einem Mann und einer Frau. Als Kitty das Wohnzimmer betrat, drehten sich alle um. Veronica erhob sich, ging auf sie zu, und Kitty umarmte sie und versuchte, ihr zerzaustes Haar ein wenig zu glätten. Sie hörte, wie die agents leise miteinander sprachen.
    »Gibt es was Neues?«, flüsterte Kitty.
    »Nein, nichts«, sagte Veronica. »Keine Nachricht von einem Autounfall. Das ist immerhin schon mal etwas, scheint mir.«
    »Irgendwelche Theorien?«
    »Ja, eine. Möglicherweise hat er das Auto stehen lassen, einen Spaziergang gemacht und sich verlaufen. Dabei könnte er sich verletzt haben, und das Handy ist runtergefallen und kaputtgegangen. Sie wollen ihn mit dem Hubschrauber suchen«, sagte Veronica. »Der ist schon unterwegs.«
    »Gut«, sagte Kitty. »Das ist gut. Da oben kann man sich leicht verirren. Aber sie werden ihn bestimmt finden.«
    Kitty schlüpfte aus dem Zimmer, um einen Tee zu kochen. Ihre Erschöpfung hatte sich noch verschlimmert durch die trübe Aussicht, Anthony könnte dem Tod entkommen sein, genauso, wie er seit vierundsechzig Jahren jeglicher Strafe für seine Eitelkeit und seinen Egoismus entkam. Wahrscheinlich würde er schon am Abend zurück in Les Glaniques sein. Und Veronica würde an seinem dürren Hals hängen und ihm erzählen, wie wichtig er für sie sei und wie sehr sie hoffte, dass er sich in Frankreich niederließ. Und dann würde alles genauso weitergehen wie bisher, nur dass jetzt nicht einmal mehr der Traum von einer Galerie sie noch trösten konnte.
    Kitty hatte gedacht, die Polizei werde sie in Ruhe lassen. Sie war doch nur »eine Bekannte«. Anthony Verey bedeutete ihr nichts, und was wusste sie schon über irgendwelche Unfälle in den Cevennen, zumal sie doch zu der fraglichen Zeit ihr vernichtendes Desaster in Béziers hatte erleben müssen. Aber dann – sie tat gerade Tee in die Kanne – blickte sie hoch und sah den weiblichen agent in der Küche stehen.
    »Nur ein paar Fragen«, sagte die Frau. »Sprechen Sie Französisch?«
    »Ja«, sagte Kitty. »Möchten Sie einen Tee?«
    »Tee? Ah non, merci .«
    Es sei nur Routine, absolut nur Routine, sagte die Polizistin, aber sie habe Kittys Bewegungen innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden zu überprüfen. Ob sie irgendwo in den Bergen oberhalb von Ruasse gewesen sei.
    In Gedanken schon, hätte Kitty am liebsten gesagt. In Gedanken war ich da oben. Ich habe ihn getötet. Ich habe sein Auto von der Bergstraße fliegen lassen. Ich sah es mehrere hundert Meter weiter unten zerschellen. Ich sah sein Blut auf den Steinen.
    »Nein«, sagte Kitty. »Ich war ganz woanders.«
     
    Als die Polizisten wieder weggefahren waren, zündete Veronica sich eine Zigarette an und sagte: »Tja, alles, was uns jetzt zu tun bleibt, ist vermutlich warten.«
    Draußen auf der Terrasse wurde es heiß. Die Geranien zeigten erste Trockenschäden.
    Kitty dachte: Ich warte auch. Ich warte darauf, dass dir wieder einfällt, was mir in Béziers widerfahren ist. Ich warte darauf, dass du endlich mich wahrnimmst.
    Sie stand auf, nahm Veronica die Zigarette aus der Hand, drückte sie aus und führte ihre Liebste, ohne ein Wort zu sagen, ins Schlafzimmer. Sie spürte, wie Veronica sich

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