Der unausweichliche Tag - Roman
sie leider fest, dass sie kaum besser war als ein Tier.
Nicht, dass sie sich bei Kitty entschuldigen müsste. Ganz und gar nicht. Kitty hatte ihr erotisches Spielchen von Anfang bis Ende geplant und mit ihr durchgezogen. Veronica hätte jetzt am liebsten jene beschämenden und demütigenden Stunden komplett ausgelöscht. Sie schwor, sich nicht von Kitty anfassen oder auch nur küssen zu lassen, ehe Anthony nicht gefunden war. Das war sie ihm mindestens schuldig. Er war Fleisch von Lals und von Raymonds Fleisch, genau wie sie selbst. Sie schuldete ihm – oder seinem Andenken – eine Phase sexueller Abstinenz.
Beruhigt durch diese Entscheidung, setzte Veronica sich an den Küchentisch, griff nach Block und Stift und begann, sich Notizen zu machen.
Was ist jetzt zu tun? , schrieb sie oben auf die Seite. Im Grunde wusste sie, dass es nichts zu tun gab außer auf neue Nachrichten zu warten, sie wusste aber ebenfalls, dass sie irgendetwas tun musste. Sie konnte nicht einfach nur mit Kitty in Les Glaniques herumsitzen. Die Stimme, die ihr Hilf mir, hilf mir, Liebes, zurief, musste gehört werden.
Die Spur verfolgen , schrieb sie.
Das kam ihr richtig vor. Sie würde nach Ruasse fahren, Madame Besson aufsuchen und sich den Weg zu dem einsamen Haus beschreiben lassen, das Anthony hatte besichtigen wollen.
Sie sagte sich, sie, V, würde herausbekommen – irgendwie würde sie es herausbekommen –, ob Anthony dort gewesen war oder nicht. Es würde irgendein Zeichen geben, das ihr verriet, ob er dagewesen war – oder eben nicht.
Verifizieren , schrieb sie.
Aber wenn sie bei dem Haus gewesen war, wie sollte es dann weitergehen?
Veronica holte eine Karte der Cevennen, breitete sie auf dem Tisch aus und starrte auf die braunen Höhenlinien, das gelbe Geschlängel der Landstraßen und die schwarz gepunkteten Linien der Wanderpfade. Und sie wusste, was diese Dinge anzeigten: eine Wildnis – eine der letzten geschützten Wildnisse Europas. Anthony wäre nicht der Erste, der dort verschwand. Die Cevennen waren das heimliche Grab für die Knochen zahlloser verschollener Menschen. Einige von ihnen – jedenfalls hatte Guy Sardi das Veronica erzählt – waren deutsche Infanteristen, die 1944 von der Résistance erschossen und namenlos in der Macchia verscharrt worden waren.Das Telefon klingelte um 8 Uhr 15 und weckte Veronica, die, den Kopf auf dem Küchentisch, die Landkarte als dünne Unterlage, eingeschlafen war.
»Veronica«, sagte eine laute englische Stimme, »hier ist Lloyd Palmer. Aus London. Ich habe gerade die Nachrichten eingeschaltet und bin völlig schockiert.«
Einen Moment lang konnte Veronica sich nicht besinnen, wer Lloyd Palmer war. Dann fiel ihr ein, dass sie vor vielen Jahren mehrmals mit Anthony in einem Haus in Holland Park zu Besuch gewesen war, wo ein Butler das Essen serviert und Palmers Ehefrau Diamantenklunker um den Hals getragen hatte, die wahre Lichtdolche in die Gegend schleuderten. Einmal hatte Anthony Veronica auf dem Heimweg im Taxi erzählt, dass Lloyd Palmer im Falle seines Todes der Nachlassverwalter seines Vermögens sein werde.
»Ich möchte gern helfen«, dröhnte Lloyd. »Was für ein absoluter Albtraum. Sagen Sie mir, was ich tun kann. Soll ich das Flugzeug nehmen?«
Veronica wartete mit der Antwort. Und genau das sollte sie auch in den kommenden Tagen tun, sagte sie sich: Alles, was man ihr anbot oder vorschlug, sorgfältig überdenken und mit der Antwort warten.
»Veronica, sind Sie noch dran?«, fragte Lloyd.
»Ja«, sagte sie schließlich ruhig. »Es ist nett, dass Sie anrufen, Lloyd.«
»Er lebt doch, oder? Im Radio hieß es, er könnte sich ›verirrt‹ haben oder sei irgendwo steckengeblieben. Sie werden ihn doch finden, oder?«
Veronica blickte auf und sah Kitty in der Küchentür stehen. Sie war nackt. Veronica sah weg. Sie kehrte Kitty den Rücken zu.
»Ich weiß nicht, ob man ihn finden wird«, sagte Veronica zu Lloyd. »Ich weiß es einfach nicht …«
»Verdammte Scheiße«, sagte Lloyd. »Das kann doch nichtwahr sein. Ich habe noch vor wenigen Tagen mit ihm gesprochen. Glauben Sie, er hatte einen Unfall?«
Kitty ging einfach nicht wieder. Sie stand da, halb wach und mit verquollenen Augen und kratzte sich im Schamhaar. Veronica trat mitsamt Telefon hinaus auf die Terrasse, wo die Morgensonne schon stechend war. Sie schloss die Tür hinter sich. Eine Stimme in ihr sagte: Das hier geht niemanden sonst etwas an. Nur mich. Ich bin als Einzige verantwortlich für
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