Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
liegen. An manchen Stellen waren ihm blutige Fleischfetzen herausgerissen, und dort hatten sich auch schon die Fliegen niedergelassen.
    Aramon blieb reglos stehen und starrte nur. Dann registrierte er allmählich, wie der Zwinger aussah. Er war völlig verdreckt, überall lag Kot, die Wassernäpfe waren leer, und er fragte sich, wann er hier eigentlich zuletzt mit einer Tüte Knochen erschienen war oder die Tiere zumindest mit Wasser versorgt hatte. Doch er konnte sich nicht entsinnen.
    Die Hunde sprangen wie wild an ihm hoch, krallten sich in seine Beine, seinen Unterleib. Er sah, dass sie vor lauter Durst Schaum vorm Maul hatten. Er stieß sie beiseite, ging zu dem Kadaver, packte ihn an den steifen Hinterläufen und zog ihn durch den Dreck, die Flinte immer noch unter dem Arm. Dann blickte er hoch und sah, dass Audrun draußen stand und alles beobachtete, sie hielt sich ihre geblümte Schürze vors Gesicht und sagte: » Mon dieu , Aramon, das stinkt ja entsetzlich! Was hast du nur gemacht?«
    Gemacht ? Was meinte sie? Er hatte nichts gemacht. Es war nur so, dass die Sorge für die Hunde … na ja … ein wenig in Vergessenheit geraten war …
    »Ich war hinten auf den Weinterrassen«, sagte er, »und habe geschuftet wie ein Sklave. Und jetzt bin ich irgendwie krank. Ich bin vergiftet worden.«
    »Vergiftet?«
    »Es könnte jedenfalls sein. Meine Gedärme brennen wie Feuer.«
    »Durch was denn vergiftet?«
    »Irgendwas. Heutzutage weiß man doch gar nicht, was einen erledigt.«
    »Unsinn. Du redest vollkommenen Unsinn. Hast du den Hund erschossen?«
    »Nein. Wieso sollte ich einen Hund töten?«
    »Dann ist er wohl einfach so gestorben. Sie verhungern alle. Sieh sie dir doch bloß an!«
    Jetzt bekam Aramon Mitleid mit den Geschöpfen. Sie waren ja unschuldig. Er würde ihren Trog mit Wasser füllen, hinunter ins Dorf fahren und bei Marcel einen weiteren Berg Knochen kaufen …
    »Es ist nicht meine Schuld, wenn ich vergiftet werde«, sagte er. »Ich brauche Hilfe. Das habe ich dir doch schon vor Wochen gesagt. Ich schaffe es hier nicht mehr. Ein Mann allein … was kann der schon ausrichten?«
    Er schloss das Tor vom Zwinger, und wieder drehten die Hunde durch, warfen sich gegen den Maschendraht und bellten, und Aramon dachte: Wenn Serge noch lebte, würde er mich verprügeln, weil ich die Hunde so schlecht behandle. Dann fielen ihm wieder die Patronen in der Flinte ein, und er wollte Audrun, die ihm zum Haus folgte, gerade davon erzählen, als sie aus der Tasche ihres Kittels eine Ausgabe vom Ruasse Libre zog und sagte: »Hast du das gesehen? Ich wollte dir das hier zeigen.«
    Aramon ließ den Kadaver fallen. Tote Dinge wogen so schwer, dass man sie nicht sehr weit schleppen konnte. Und die Erde war so trocken, dass es ihn bestimmt seine letzten Kräfte kosten würde, ein Grab für das Tier zu schaufeln. Schwer atmend wandte er sich seiner Schwester zu. Sie hielt ihm die Zeitung hin.
    »Was ist das?«, fragte Aramon.
    »Sieh dir das Bild an«, erwiderte sie.
    Er hatte seine Brille nicht dabei. Hatte nur rasch die Kleiderübergeworfen und die Flinte genommen. »Ich kann nichts sehen«, sagte er.
    Sie hatte die Zeitung einmal gefaltet und wedelte mit der Seite vor seinem Gesicht. »Sieh doch!«, sagte sie.
    Er starrte auf das verschwommene Foto. »Wer ist das?«, fragte er. »Ich kann überhaupt nichts erkennen.«
    Sie entriss ihm die Zeitung und las laut: » ENGLISCHER TOURIST VERMISST . Die Polizei hat die Suche nach dem Engländer Anthony Verey, der seit Dienstag vermisst wird, heute wieder aufgenommen. Der britische Kunsthändler Verey, 64, soll seinen Mietwagen …«
    »Verey?«, sagte Aramon. »Verey?«
    »Ja. Ist das nicht der Mann …«
    »Wie kann der denn ›vermisst‹ sein?«
    »Das weiß ich nicht. Aber das ist doch der Mann, oder? Der zur Besichtigung hier war?«
    Aramon hängte sich die Flinte über die Schulter und griff nach der Zeitung. Er hielt sich das Foto dicht vors Gesicht, und ganz allmählich konnte er das Bild scharf stellen, und sein Auge sah ein anderes Auge. Und irgendetwas an diesem Auge kam ihm bekannt vor, etwas, das ihm einen Schauer über den Rücken und bis in die Schuhe jagte.
    »Könnte sein«, sagte er. »Wenn man diese Berge nicht kennt, kann man sich da leicht verirren …«
    »Aber es ist komisch, dass er an dem Tag verschwunden ist«, sagte Audrun, »als er noch mal herkam. Findest du nicht auch? Findest du das nicht merkwürdig?«
    Der Tag, als er noch mal herkam.
    Aramon

Weitere Kostenlose Bücher