Der unausweichliche Tag - Roman
sträubte und protestieren wollte, doch sie, Kitty, war entschlossen; sie wollte Liebe. Worte würden nicht helfen. Tatsächlich setzte sie ihre Hoffnung nicht mehr auf Worte; was sie brauchte, war wortloses Verlangen. Und sie fühlte, dass das, was in den nächsten Augenblicken geschah, über die gesamte Zukunft – ihrer beider gemeinsame Zukunft – entscheiden würde.
E r sagte sich, es könnte an der Hitze liegen oder am mühseligen Beschneiden der Weinstöcke oder an beidem, jedenfalls wühlten in Aramons Eingeweiden jetzt solche Schmerzen, dass er sich manchmal auf die Knie niederlassen und dann zusammengerollt auf die Erde legen musste – in der Haltung eines verdammten Fötus –, damit die Krämpfe sich beruhigten.
Sein Appetit war verschwunden. Süßes brachte er nur noch lutschend herunter – einen Löffel Marmelade, ein Stück Schokolade. Dann setzte er sich und wartete, dass der Zucker ins Blut ging. Auch wenn er Brot im Mund zu Brei aufweichte, musste er würgen. Und bei dem Gedanken, er müsste Fleisch essen, grauste es ihn, als könnte das, was in der Theke der boucherie auslag, Menschenfleisch sein …
»Was darf es denn heute sein, Aramon?«, fragte Marcel, der Metzger in La Callune. »Ein Stück Kalb? Eine leckere merguez ?«
»Für mich nichts, mein Freund …«, murmelte Aramon. »Nur ein paar Knochen – für die Hunde.«
Und beim Verlassen des Ladens hörte er Marcel zu den anderen Kunden sagen: »Lunel ist gar nicht mehr wiederzuerkennen, pardi .«
Er setzte sich an seinen Tisch, trank sirop de menthe und rauchte. Und er fragte sich, ob in seinem Magen ein Krebsgeschwür wuchs. Er fragte sich sogar, ob er vergiftet worden war. Denn so etwas kam vor in der modernen Welt. Giftige Mikroben gelangten in die Nahrungskette oder die Wasserversorgung. Man konnte langsam sterben, jeden Tag ein bisschen mehr, und würde niemals erfahren, wieso.
Andere Symptome begannen ihn zu quälen. Plötzliche Schwindelanfälle. Alles zog sich dann zusammen und wurde schwarz. Eben noch hatte er draußen in der Hitze gestanden,umschwirrt von Vögeln und Insekten, und eine Sekunde später war er ganz woanders – lag an einer Steinmauer oder sonst irgendwo, mit dem Gesicht auf der Erde, und die Welt war verstummt, und der Schatten der Bäume fiel so, wie er normalerweise nie fiel.
Diese seltsamen Lücken im Fluss der Zeit … Er ließ zu, dass sie ihn an jene längst vergangenen Nächte erinnerten, als er bei dem, was sein Körper tat, immer ohnmächtig wurde und Serge dann kam und ihn mit Ohrfeigen wieder ins Leben zurückholte, ihm aufhalf oder ihn sogar in sein eigenes Bett zurücktrug. Aramon wusste, dass es zwischen beidem keine Verbindung gab. Jene Augenblicke damals waren gewollt. Er hatte eine Tür geöffnet und war eingedrungen, und das Eindringen hatte ihn in einer Weise überwältigt wie nichts sonst in seinem Leben. Aber nichts von dem, was ihm jetzt widerfuhr, war gewollt. Aramon musste erkennen, dass die Episoden , die seiner Schwester seit jener Zeit das Leben vergällten, jetzt auch ihn heimsuchten.
Er überlegte, ob er zum Arzt gehen sollte. Aber bei dem Gedanken an einen Arzt – Augen, die in seinen Mund starrten, Hände, die seinen Magen abtasteten – wurde ihm ganz elend. Und wenn der Doktor eine schlimme Nachricht für ihn hätte, wüsste er nicht, wie er sich verhalten sollte.
Eines Morgens wurde er sehr früh von den Hunden geweckt, weil sie ein wolfsartiges Geheul ausstießen.
Er warf sich in seine alte Arbeitskleidung und fuhr in die Stiefel, holte seine Flinte Kaliber 12 aus dem Regal neben der Tür, nahm die Patronentasche und ging nach draußen. Und als die Hunde ihn kommen sahen, sprangen sie wie verrückt gegen den Maschendraht des Zwingers und krallten sich darin fest.
Aramon nahm zwei Patronen aus der Tasche, knickte die Flinte, um die Patronen einzulegen, und sah, dass noch zwei im Lauf steckten. Er lief zwar weiter in Richtung Zwinger, aber sein Verstand hakte sich an diesen Patronen im Flintenlauf fest.
Er wusste genau, dass er seine Flinte niemals in geladenem Zustand weglegen würde.
Er öffnete das Tor zum Zwinger und ging hinein. Drinnen stank es so entsetzlich, dass er würgen musste und einen gelben Schleimklumpen in den Dreck spuckte. Sein erster Gedanke war, dass sein eigener Zustand, seine Krankheit, ihn empfindlicher gegen den Gestank im Hundegehege machte, aber als er sich dann umblickte, sah er in der hinteren Ecke einen toten Hund im Schatten
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