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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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großer Mann von einem Meter neunzig, mit breiten Schultern und Händen wie Bärenpranken, während Lal klein und zart wie ein Springbock wirkte. Das menschliche Verhalten sei doch einfach absolut dumm und vollkommen verkehrt, erklärte Anthony Veronica, wenn seine Mutter ein derartiges Monstrum tatsächlich wählen , wenn sie sich diesem Monstrum freiwillig unterwerfen konnte. Und dennoch – heimlich hätte er gern einmal zugesehen. Er hätte gern Lals Tür geöffnet und zugesehen, wie ihr nackter Körpervon Charles Le Fell plattgequetscht wurde. Und dann hätte er geschrien. Er hätte im Schlafzimmer seiner Mutter gestanden und geschrien, bis ihm schlecht geworden wäre.
    Er weigerte sich, mit Charles Le Fell zu reden. Bei den Mahlzeiten versuchte der liebenswürdige Kanadier Konversation über die Schule zu machen oder über die neuesten Nachrichtenmeldungen, etwa den Start des ersten russischen Raumschiffs, das Sputnik hieß. Aber Anthony gab nur gemurmelte, einsilbige Antworten und entschuldigte sich sofort, nachdem er den Teller leergegessen hatte, und verließ die Tafel.
    Lal bestrafte ihn, indem sie ihm keinen Gutenachtkuss mehr gab. Sie sagte: »All das ist jetzt vorbei. Du musst erwachsen werden, Anthony. In jeder Hinsicht. Sonst wirst du nie ein normales Leben führen. Und entweder du benimmst dich ab jetzt anständig gegenüber Charles, oder du bleibst während der Weihnachtsferien in der Schule.«
    »Ich hasse Frauen«, sagte er eines Abends zu Veronica. »Ich hasse jede einzelne Frau auf der Welt, außer dir.«
    »Ich bin keine Frau«, sagte Veronica. »Ich bin ein Pferd.«
     
    Er hasste Frauen, und dennoch …
    Bilder von Anthonys Hochzeit drängten sich in Veronicas erschöpftes Hirn.
    »Lass doch das alte Zeug«, sagte Kitty. »Verbann es aus deinem Kopf, wenn es dich aufregt.«
    Aber Veronica hatte das Gefühl, dass die Erinnerungen sich vielleicht nicht grundlos meldeten. Wenn sie bereit wäre, das »alte Zeug« zu prüfen – so wie man Beweisstücke vor Gericht prüft –, würde sie vielleicht einen Einblick in das bekommen, was tatsächlich geschehen war.
    Sie sah jenen Tag der Hochzeit noch sehr genau vor sich …
    Lal, die ein hauchdünnes blaues Kleid trug, aber müde und plötzlich älter aussah, sich in der Kirche umdrehte und die Gesichter der versammelten Gäste musterte, als hoffte sie, der hübscheCharles Le Fell könnte wieder auftauchen und sie seine »Lally-Pally«, sein »Schnuckiputzi« nennen …
    Anthony, der in der ersten Kirchenbank auf die Ankunft seiner Braut Caroline wartete …
    Anthony, makellos in einem Cutaway aus der Savile Row, mit gebräuntem Gesicht und damals noch dunklem Haar. Neben ihm Lloyd Palmer (ja, natürlich war Lloyd Palmer sein Trauzeuge), der fröhliche, verlässliche Freund. Und dann, als die Orgel mit dem Brautmarsch einsetzte und die elegant beschuhte Gemeinde sich geräuschvoll erhob, beugte Anthony sich plötzlich nach vorn, klappte beinahe zusammen, so als müsste er sich auf den Steinplatten übergeben, und Lloyd legte seinen Arm tröstend um ihn. Veronica, in der Bank hinter ihm, wäre am liebsten über den Sitz geklettert, um bei ihrem Bruder zu sein, aber sie konnte, behindert durch ihren engen seidenen Anzug und die Satinpumps, dann doch nur ihre behandschuhte Hand ausstrecken …
    Er musste sich nicht übergeben. Er schaffte es, sich wieder aufzurichten, als Caroline sehr elegant durch das Kirchenschiff schritt. Doch er wandte nicht einmal den Kopf, um seiner Braut entgegenzusehen. Er hielt sich sehr steif aufrecht, und Veronica konnte sehen, dass er am ganzen Körper vor Angst zitterte. Eigentlich hätte er aus der Bank treten sollen, als Caroline auf seiner Höhe war, doch er rührte sich nicht. Caroline und ihr Vater warteten. Carolines Gesicht mit den scharfen Zügen wandte sich ihm zu, in ihren vom Schleier halb verdeckten Augen stand Panik. Die Hand, die das Lilienbouquet hielt, machte eine Bewegung …
    Lloyd musste Anthony aus der Bankreihe und in den Gang neben Caroline dirigieren. Der Pfarrer blickte die beiden entsetzt an. Lal beugte sich zu Veronica und flüsterte: »Irgendetwas stimmt nicht, V. Aber was?«
    Aber was?
    Er stand es durch. Auf dem Empfang hielt er eine Rede über die Liebe.
    Aber später, als Veronica ihm vor dem Waschraum des Hotels begegnete, nahm er ihren Arm und führte sie weg von der Party in den Garten, wo ein steinerner gelockter Cupido Wasser in einen Seerosenteich pinkelte.
    »Ich liebe Caroline nicht«,

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