Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
Nachrichten auf. Der mit der Suche beauftragte Inspecteur erklärte Veronica, dass die Chancen, eine verschwundene Person lebendig wiederzufinden, sich nach dem dritten Tag gravierend verschlechterten.
    »Aber das kann doch nicht heißen, dass Sie einfach aufgeben!« Veronica schrie ihn förmlich an.
    » Non, Madame , sagte der Inspecteur geduldig. »Natürlich geben wir nicht auf. Wir werden Ihren Bruder finden – lebendig oder tot.«
    Lebendig oder tot.
    Was Veronicas Schmerz ins Unerträgliche steigerte, war die Erkenntnis, dass sie Anthony sein ganzes Leben lang geliebt und geschützt hatte – vor der Vernachlässigung durch den Vater, vor Lals ungezügeltem Temperament und vor seiner eigenen Ängstlichkeit –, dass sie ihn aber vor dem, was ihm jetzt womöglich zugestoßen war, nicht hatte schützen können. In ihren Träumen war er lebendig begraben und erstickte langsam, worauf sie schreiend erwachte. Kitty versuchte, sie zu streicheln und zu trösten, aber sie sträubte sich dagegen, aus Angst, die Zärtlichkeiten könnten in Leidenschaft umschlagen.
    Im Geiste sprach sie mit Anthony. Sie erklärte ihm, sie habe das Haus der Schweizer aufgesucht. Die Polizei habe das Geländeflüchtig abgesucht, nichts Ungewöhnliches entdeckt und sei wieder abgezogen. Aber Veronica war dann doch auf etwas gestoßen, was sie überzeugt hatte, dass Anthony an jenem Tag tatsächlich dort gewesen war. Das Schweizer Ehepaar besaß einige schöne antike französische Möbel. Und hier und da hatte Veronica Spuren auf den staubigen Tischen und Vitrinen entdeckt, die eindeutig von Fingern stammten, und Veronica wusste – sie wusste es mit absoluter Sicherheit! –, dass diese Spuren von Anthonys Fingern stammten. »Du wolltest gar nicht prüfen, wie staubig alles war«, sagte sie zu ihm, »nicht wahr, Darling? Du hast nur erkannt, dass es sich um Objekte von Wert handelt, und du wolltest sie berühren . Du wolltest sie einen Moment lang lieben. Du wolltest dir vorstellen, wie sie sich zwischen deinen Lieblingen machen würden. Ich irre mich doch nicht, Anthony? Ich weiß, dass ich mich nicht irre.«
    Ein kriminaltechnisches Team wurde zum Schweizer Haus geschickt. Ja, richtig, es habe deutliche Spuren auf den Möbeln gegeben, teilte man Veronica mit. Aber bevor das Team jetzt seine Untersuchung im Schweizer Haus fortsetze, müsse man prüfen, ob die dortigen Fingerabdrücke mit denen von Anthony Verey identisch seien.
    Die Leute von der Kriminaltechnik kamen nach Les Glaniques und bestäubten Gegenstände in Anthonys Schlaf- und Badezimmer, um Fingerabdrücke zu finden. Dann nahmen sie Anthonys Sachen mit – fast alles, was ihm gehörte –, während Veronica dabeistand und zusah, wie noch die unbedeutendsten Bestandteile seines Lebens, die er nach Frankreich mitgebracht hatte, vorsichtig in Plastiktüten gesteckt wurden. Sie interessierten sich sogar für seinen Schlafanzug, den Veronica am Tag seines Verschwindens unter das Kissen gelegt hatte, und wollten ihn in eine Tüte stopfen.
    »Nehmen Sie den nicht mit«, sagte sie. »Wieso brauchen Sie ihn?«
    »DNA, Madame«, sagten sie. »Alles kann wichtig sein.«
    Veronica legte sich auf Anthonys Bett. Sein Geruch – nach all den Lotionen und Salben, die er benutzte – saß immer noch in dem Kissen, obwohl der Bezug schon mitgenommen worden war.
    Sie musste daran denken, dass er seit jeher Parfüm geliebt hatte. Als Teenager war er einmal dabei erwischt worden, wie er an Lals Frisierkommode saß und nacheinander all ihre Fläschchen ausprobierte, sie öffnete und daran roch. Als Lal ihn überraschte, hielt er gerade einen Porzellantiegel mit Vaginalgleitcreme in der Hand. Lal nahm ihm den Tiegel weg, schleuderte ihn quer durchs Zimmer und verpasste Anthony dann mit dem Handrücken eine Ohrfeige. Sie sagte, er sei ein dreckiger, ein ganz abscheulicher Junge.
    Das war in jenem Sommer gewesen, als Lal ihren kanadischen Liebhaber Charles Le Fell nach Bartle House gebracht hatte. Während Veronica schon seit Längerem ahnte, dass ihre Mutter Liebhaber hatte, war es Anthony ganz offensichtlich nie in den Sinn gekommen, und er erklärte Veronica, wenn er daran denke, was seine Mutter mit Charles Le Fell machte, würde er ihn am liebsten umbringen.
    »Tu das nicht«, sagte Veronica. »Kanadier sind ziemlich nett.«
    »Das ist mir egal«, sagte er. »Ich würde sie am liebsten beide umbringen.«
    Nachts schlich er im Haus umher und horchte an Lals Tür. Charles Le Fell war ein sehr

Weitere Kostenlose Bücher