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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sagte er. »Ich mag sie, aber das ist nicht dasselbe, wie wir alle sehr genau wissen.«
    »Vielleicht ist das nicht so wichtig«, sagte Veronica. »Vielleicht ändert es sich ja mit der Zeit. Denk an die arrangierten Ehen. Manchmal kommt die Liebe später …«
    »Ja«, sagte er. »Das habe ich gehört. Was bist du für ein weises altes Mädchen.«
    Er machte Anstalten, zu den Hochzeitsgästen zurückzukehren, doch dann packte er Veronicas Arm, hielt ihn fast schmerzhaft fest und sagte: »Heute Morgen bin ich um fünf Uhr aufgewacht, V, und zu Fuß zur Chelsea Bridge gelaufen. Ich hatte schwere Kaufmannsgewichte in einer Harrods-Tasche dabei, und ich wollte sie schon in meine Taschen stecken …«
    »Was hat dich abgehalten?«, fragte Veronica. »Der Gedanke an die Verschwendung einer Harrods-Tragetasche?«
    »Das ist mein Ernst, V. Das ist mein Ernst.«
    »Meiner auch, Anthony. Wenn du dich umbringen wolltest, was hat dich dann abgehalten?«
    »Nicht was «, sagte Anthony, »sondern wer . Ein Junge. Sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Der sich die Nacht um die Ohren geschlagen hatte, nach Hause wollte und nach allem Möglichen stank. Und er war noch nicht mal schön, doch das war mir egal. Wir sind in den Battersea Park gegangen. Es gibt da immer noch ein paar Ecken, wo man nicht gesehen wird.«
    »Und wenn der Junge nicht vorbeigekommen wäre?«
    »Ich weiß es nicht. Denn warum soll man weitermachen? Ich wusste nicht, warum, und ich weiß es immer noch nicht. Warum ?«
     
    Veronica weckte Kitty mitten in der Nacht und sagte: »Ich habe mich heftig dagegen gesträubt. Aber jetzt versuchte ich, dem ins Auge zu sehen. Ich glaube, es ist möglich, dass Anthony Selbstmord begangen hat.«
    »Ja?«, sagte Kitty.
    »Er hat es schon einmal in Betracht gezogen. Vielleicht mehr als einmal. Seine Reise nach Frankreich war der letzte Versuch, irgendwie zu leben. Das glaube ich. Und ich glaube auch, dass er da oben in dem einsamen Haus womöglich begriffen hat, dass es nicht funktioniert … dass alles vorbei ist.«
    Kitty streichelte Veronicas Haar. Dann stand sie auf und ging zu der Kommode, wo sie ihre recht männliche Unterwäsche aufbewahrte. Sie kam mit einem zerknüllten Stück Zellophan in der Hand zum Bett zurück.
    »Das habe ich gefunden, als ich noch mal zum Mas Lunel gefahren bin«, sagte sie.
    Veronica setzte ihre Brille auf und blinzelte auf das Zellophanpapier. »Was ist das?«, fragte sie.
    »Einwickelfolie«, sagte Kitty. »Käse und Tomate. Vom La Bonne Baguette .«
    »Und?«
    »Ich kann mich täuschen«, sagte Kitty, »aber es ist derselbe Belag, den Anthony beim ersten Mal gewählt hat, als wir mit Madame Besson da waren. Und ich frage mich die ganze Zeit … wenn er nun noch mal dort hingefahren ist … um sich das Mas ein zweites Mal anzuschauen …«
    Veronica starrte auf den Fetzen Zellophan und zwirbelte ihn zwischen den Fingern. Schließlich sagte sie: »Wir könnten das den Kriminalleuten geben. Aber ich glaube nicht, dass Anthony noch einmal dort war. Ich bin sogar ziemlich sicher. Er hatte seine Entscheidung doch schon getroffen. Er wusste, dass diese hässliche Kate das Ganze verdarb. Vielleicht dachte er ja einen Moment lang, er hätte es gefunden – sein Paradies –, aber dann erkannte er, was es wirklich war: alles andere als ein Paradies.«

A ramon begann, zu seiner toten Mutter Bernadette zu beten.
    »Hilf mir!«, heulte er. »Hilf mir, Maman …«
    Er wusste, dass sie ihn nicht hören konnte. Und wenn sie ihn hören würde und wüsste, wie es in seinem Kopf und in seinem Herzen aussah, würde sie ihm trotzdem keinen Trost spenden, weil sie ebenso wenig vergessen hätte, dass er sich schon vor sehr langer Zeit um ihre Liebe gebracht hatte.
    Und dennoch stellte er sich immer wieder ihr liebes Gesicht vor, ruhig und zärtlich an seiner Seite. Sie flickte die Löcher in seinen alten, verschlissenen Socken. Und sie führte die Stopfnadel so geschickt wie eine erstklassige Schneiderin. An den Füßen trug sie Gummistiefel, voller Lehm von draußen, an dem noch kleine, feuchte Grasbüschel klebten.
    Er durchsuchte das ganze Haus nach dem Schlüssel für das fremde Auto.
    Jedes Mal, wenn er sich nach einem hohen Regal reckte oder das Oberteil eines Schranks abtastete, stöhnte er vor lauter Leibschmerzen. Er fand alte, von Motten völlig zerfressene Decken. Er fand Serges schweren Barchent-Mantel aus dem Krieg, an dessen Revers noch das S.T.O.-Abzeichen geheftet war. Er fand eine zusammengerollte

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