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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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schwachen Lämpchens, dessen Licht das Senfgas kaum zerstreute. Vier Mal am Tag schlüpften sie nur für ein paar wenige Minuten dort heraus, um die geprüften Gasmasken abzusetzen, sich mit einem schmutzigen Küchentuch den Schweiß vom Gesicht zu wischen, ein wenig anständige Luft zu atmen und mit einer neuen Gasmaske wieder auf die Holzbank der Testkammer zurückzukehren.
    Stepanytsch hatte Verspätung, und um keine Zeit zu verlieren, beschloss Dobrynin, den Bericht über die erfüllte Tagesnorm im Voraus auszufüllen. Er schlug das Register auf, in dem auf der nötigen Seite ein Bleistiftstummel steckte, notierte die Norm für sich und den Urku-Jemzen, schrieb die gewöhnliche Zeit ihres Arbeitsendes hin – zehn Uhr abends – und setzte seine Unterschrift darunter.
    Hier brachte Stepanytsch gerade die Gasmasken. Ohne viele Worte zu verlieren, nahmen Dobrynin und Waplachow je eine, überprüften die Gumminähte, zogen die helmartigen Masken auf, nickten dem Alten zu und begaben sich in ihre Testkammer.
    Stepanytsch blickte auf seine Taschenuhr, dann drückte er mit seinem schwachen Gewicht die Eisentür zu, bis sie ordentlich eingerastet war. Er überprüfte das Ventil und ging zu seiner Abteilung davon.
    Im trüben Licht ihrer Testkammer hatten der Urku-Jemze und Dobrynin sich auf die Bank gesetzt.
    Nun galt es sich von der erschwerten Atmung abzulenken, und jeder versank deshalb in seinen eigenen Ge-danken.
    Gegen drei Uhr, als Dobrynin und Waplachow gerade die Überprüfung des dritten Paars Gasmasken abschlossen, klopfte es an ihrer Eisentür.
    Der Kontrolleur und sein Gehilfe liefen in den kleinen Flur hinaus, zogen sich die Masken ab, und nachdem sie ein wenig verschnauft und tief Luft in ihre Lungen gesogen hatten, erblickten sie Akimow vor sich, den Parteisekretär der Fabrik.
    „Rauchpause!“, verkündete er mit einem Lächeln im Gesicht. „Heute haben wir in der Schichtpause eine Veranstaltung … Gehen wir!“
    In dem Kulturraum der Fabrik saßen bereits fünfzehn bis zwanzig Frauen in Erwartung der Veranstaltung. Stepanytsch war dabei, ein schweres Rednerpult aus Eichenholz an den linken Rand der Bühne zu schieben, um Platz zu schaffen.
    „Setzen Sie sich.“ Akimow wies mit dem Kinn auf die erste Reihe. „Gleich kommen auch noch die Mitarbeiter aus der Küche …“
    Als die Mitarbeiter aus der Küche eingetroffen waren und in der ersten Reihe neben den Kontrolleuren Platz genommen hatten, erklomm Akimow die Bühne.
    „Liebe Genossen!“, sagte er. „Heute ist der Moskauer Künstler Mark Iwanow mit seinem sprechenden Papagei bei uns zu Gast. Begrüßen wir unsere Gäste, bitte!“
    Unter spärlichem Applaus betraten zwei einander irgendwie ähnelnde Männer den Kulturraum. Die Augen des einen waren mit einer schwarzen Binde verbunden, in der Hand trug er einen Käfig in einem Futteral. Er ging, indem er sich an seinem Kameraden festhielt, und dabei hinkte er stark. Der zweite Mann warnte den lahmen Blinden sorgsam vor Stufen und Abzweigungen. Endlich machten sie auf der Bühne Halt. Hier holte der Sehende einen großen Papagei aus dem Käfig, setzte ihn auf die Schulter seines Partners, flüsterte ihm etwas zu und entfernte sich.
    „Ach Gott!“, ächzte leise eine Frau in der zweiten Reihe. „Was macht der Krieg nur aus den Menschen!“
    „So, trag vor!“, befahl der Mann mit der Augenbinde.
    Der Papagei sah die Zuschauer an, die sich versammelt hatten, drehte den Schnabel von einer Seite zur anderen, hob dann den Schnabel zur Decke, als würde er sich etwas in Erinnerung rufen. Und so, mit Blick zur Decke, begann er zu deklamieren.

    „… Rings beleuchtet mich der Krieg,
    Und ich schreibe diesen Brief,
    Schreibe ihn allein nur dir,
    Nicht auf üblichem Papier … “

    Unvermittelt verstummte der Papagei, blickte herab auf die Zuschauer und fuhr nach einer Pause fort:

    „… Oben auf dem Grabenrand
    seh ich nun die Feuerwand.
    Schreibend blicke ich hinaus,
    Und der Brand löscht alles aus …“

    „Jaaa …“, flüsterte Dobrynin bass erstaunt. „Siehst du das?“
    Waplachow, der nicht weniger verblüfft als Dobrynin war, nickte.
    „Sind sie schon vor Längerem aus Moskau hierher gekommen?“ Dobrynin neigte sich zu dem Parteisekretär, der auf seiner anderen Seite saß.
    „Vermutlich nicht …“
    „Hör mal, Akimow, vielleicht laden wir ihn mit dem Papagei zu einem Fläschchen ein?“
    Der Parteisekretär überlegte.
    „Sie kommen doch dann zu zweit …“, begann

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