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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Truppen
    Ruhig blickt die Sonne oben …“

    „Ein schönes russisches Gedicht!“, sagte der Urku-Jemze verzaubert. „Es ist sehr gut! So aufrichtig und rein …“
    „Bist du etwa kein Russe?“ Der Parteisekretär sah Waplachow misstrauisch an.
    Augenblicklich war der Urku-Jemze nüchtern geworden, und er sah kläglich zu Dobrynin hinüber.
    „Sein Vater ist kein Russe, aber seine Mutter ist Russin …“, erklärte der Volkskontrolleur schnell.
    „Und von welcher Nation ist denn der Vater?“ bohrte Akimow weiter.
    Da verkrampfte sich der Urku-Jemze, denn er dachte an das Grauen, das er im Kreml erlebt hatte. Das sollte sich doch nicht etwa wiederholen?
    „Der Vater kam aus dem Norden … Ewenke, glaube ich … Ich habe ihn ja auch nie gesehen …“, stammelte Waplachow.
    „Ich habe einmal einen Ewenken kennengelernt!“, sagte Mark Iwanow unerwartet laut. „Das war in Aserbaidschan. Der war lustig … Klein und schlitzäugig. Er hat mir sein Lied vorgesungen …“
    Jetzt hörten alle aufmerksam dem Künstler zu, der gleichsam explodierte, man sah, er hatte genügend getrunken, um sich beherzt zu unterhalten, auch ohne seine Gesprächspartner zu sehen.
    „Hat er das Lied denn in seiner Sprache gesungen?“, wollte Akimow wissen.
    „Ja. Auf ewenkisch. Das war auch ein schönes Lied, ein beseeltes. Man verstand kein Wort, aber alles klang so menschlich. Ich habe sogar überlegt, Kusma dieses Lied beizubringen, aber das ist eine schwierige Sache …“
    „Und auch sinnlos“, mischte Parlachow sich ein. „Was soll der Vogel mit einem nichtrussischen Lied?! Wer versteht das denn? So aber hören die Leute die Gedichte und weinen und empfinden etwas. Was für einen Sinn hätte das gehabt, wenn der Papagei heute, sagen wir, irgendwelche ewenkischen Gedichte vorgetragen hätte … oder so urku-jemzische? Na?“
    Waplachow verkrampfte sich aufs Neue und blickte heimlich auf Parlachow. Furcht packte den Urku-Jemzen, und wieder musste er an Moskau denken. Er sah auch zu Dobrynin hin. Dieser russische Mensch stand ihm inzwischen näher als sein Vater.
    „Hör zu, Dmitrij“, wandte der Parteisekretär sich an Waplachow. „Sing uns doch mal so ein ewenkisches Lied, wenn du dich an eins erinnerst. Hm?“ Dieses Mal war Akimows Stimme ganz freundschaftlich.
    Da beschloss Dmitrij, sich etwas ins Gedächtnis zu rufen. Von den ewenkischen Liedern mochte er das Lied vom verwundeten Bären, dieses Lied war jedoch recht traurig.
    „Na, los!“, trieb Akimow ihn an.
    Waplachow begann zu singen. Leise und mit Gefühl.
    Parlachow neigte den Kopf ein wenig und starrte den Urku-Jemzen an. Furcht war in seinen Augen aufgeblitzt, und der Urku-Jemze bemerkte das.
    Die um den Tisch Versammelten regten sich nicht, während sie dem Lied lauschten. Mark nahm tastend den Papagei von seiner Schulter und setzte ihn auf dem Tisch vor sich ab.
    Der Papagei sah gleichfalls den Urku-Jemzen an.
    Als Waplachow zu Ende gesungen hatte, hing Stille über dem Tisch. Sie hielt einige Minuten an, bis irgendjemand tief aufseufzte.
    „Wovon hast du denn da gesungen?“, fragte Akimow.
    „Es handelt von einem verwundeten Bären …“, erklärte der Urku-Jemze. „Einmal hat ein Jäger einen Bären verwundet und laufen lassen. Der verwundete Bär kehrte nach Hause in seine Höhle zurück, leckte seine Bärenjungen ab und starb. Sein Geist Osuj aber kam in derselben Nacht zum Haus des Jägers und öffnete Fenster und Türen weit. Am Morgen waren der Jäger, seine Frau und die beiden Kinder erfroren. Danach hatte sich der Geist Osuj beruhigt und verschwand in die Ebene Bajtyn …“
    „Ein schreckliches Lied …“, bemerkte Mark Iwanow. „Einfach schrecklich!“ Und er schüttelte den Kopf, wie um ein Bild zu vertreiben.
    „Die Gegend ist auch schrecklich“, ergänzte Dobrynin. „Ich war dort … Wie viele unserer Leute sind dort erfroren … es schaudert einen, daran zu denken.“
    Wiederum hing düsteres Schweigen über dem Tisch, doch dieses Mal unterbrach die Alte Piliptschuk die Stille.
    „So, soll ich den Tee bringen?“, rief sie vom Ofen her.
    „Ja, bring her!“, befahl ihr der Parteisekretär.
    „Jaa …“, seufzte Parlachow schwer. „Ja, wahrlich, wie viele Söhne hat unsere Heimat verloren! Die besten Menschen … Ach …“
    Wieder löste die Alte Piliptschuk die Anspannung. Ohne darauf zu hören, was am Tisch gesprochen wurde, stellte sie vor jeden geschäftig eine Blechtasse hin und begann allen der Reihe nach aus einem

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