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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Nähte auf. Mehr als einmal waren die scharfen Messer und Scheren bereits abgerutscht und hatten ihre Spuren an den Fingern und Händen des Urku-Jemzen hinterlassen. Aber er schwieg geduldig. Er schwieg und tat seine Arbeit wie das ganze sowjetische Volk, während er nur an den Sieg und ein klein wenig an diese junge Frau dachte, Tanja Seliwanowa, die so selbstlos ihre Kopeken für Zigaretten für unbekannte Soldaten ausgab.
    Sie beendeten die Arbeit gegen elf Uhr abends. Draußen war es schon dunkel, die Leute schlossen die Fenster.
    Dobrynin taten die Handgelenke und Schultern weh, Waplachow schmerzten die Finger.
    Schweigend gingen sie zu dem Häuschen, das man ihnen zugeteilt hatte, und das nur aus einem Zimmer mit einem Fenster und einem kurzen Flur bestand. Sie tranken Tee.
    „Ich werde schlafen.“ Waplachow stand von dem Tisch auf und blickte Dobrynin fragend an. „Willst du wieder nicht?“
    „Wenn der Krieg zu Ende ist“, sagte Dobrynin träumerisch. „Dann komme ich nach Moskau, trinke Tee mit dem Genossen Twerin, und danach fahre ich nach Hause zum Schlafen. Und dann werde ich wohl ganze Tage lang schlafen …“
    „Na dann, gute Nacht.“ Das Bett knarzte unter Waplachow. „Du könntest dich aber doch wenigstens ein bisschen hinlegen …“
    Pawel antwortete nicht. Er zog den Salznapf zu sich heran und prüfte, ob es noch Salz darin gab. Dann holte er unter dem Tisch einen Leinensack hervor und zog ein verschimmeltes Stück Brot heraus. Er nahm ein Messer und schnitt den ganzen Schimmel ab, wonach er sich eine Scheibe herunterschnitt und das restliche Brot zurücklegte.
    Stille hing in dem Zimmer. Waplachow war offenbar bereits eingeschlafen.
    Dobrynin stand auf und trat auf Zehenspitzen an sein Bett, beugte sich darüber, zog aus dem dort liegenden Reisesack das Büchlein heraus, das Genosse Twerin ihm geschenkt hatte, und kehrte ebenso behutsam zum Tisch zurück. Er zog die brennende Kerze zu sich her.
    Die Seiten des Buches raschelten, und auf einmal konzentrierte sich Dobrynin und hörte zu blättern auf. Er ging ein paar Seiten zurück, beugte sich vor und betrachtete aufmerksam eine Illustration zu einer der Geschichten.
    Die Erzählung hieß „Lenin und Twerin“, und über dem Titel befand sich das farbige Bild dieser beiden großartigen Menschen.
    Dobrynin studierte zuerst das Porträt von Genosse Twerin. Er war auf dem Bild ein noch ganz junger Bursche, gänzlich bartlos, in kariertem Sakko und Bauernhemd. Neben ihm stand Genosse Lenin in seinem braunen Anzug mit Weste. Twerin war gelockt und Lenin war gänzlich kahl.
    Pawel erinnerte sich an seine letzte Begegnung mit dem Genossen Twerin und daran, wie schlecht er ausgesehen hatte: bleich war er gewesen, mit eingefallenen Wangen und schiefem Spitzbart; und dieser riesige, lose an ihm schlackernde Uniformmantel …
    ‚Er braucht den Mantel ein paar Nummern kleiner!‘, dachte Dobrynin unvermittelt.
    Und während er an Twerin dachte, blickte er in die Flamme der Kerze, die er bereits doppelt sah. Er blickte in diese Flamme und biss in das Brot, das er ins Salz zu tunken vergaß.
    Auf einmal war die Erstarrung vorbei. Er legte das Brot auf den Tisch neben den Salznapf und sah in das aufgeschlagene Buch. Er wollte lesen, und auch echte Neugier regte sich in dem Volkskontrolleur. Immerhin kannte er einen der Helden der Erzählung persönlich, war vielleicht sogar befreundet mit ihm. Und, o erstaunliches Leben!, sein Genosse war zu seiner Zeit mit dem Genossen Lenin befreundet gewesen. ‚Wenn Lenin noch lebte‘, überlegte Dobrynin, ‚dann wäre ich wohl auch mit ihm bekannt …‘
    Bei diesem Gedanken überlief den Rücken des Volks­kontrolleurs eine Gänsehaut.
    Er vertrieb alle Gedanken und begann zu lesen. Dabei legte er sich die rechte Hand vor den Mund, damit sein eigener Atem die Kerze nicht daran hinderte, die Worte und Buchstaben dieser Erzählung zu beleuchten:

    Es lebten einmal zwei Genossen. Einer hieß Lenin, der andere Twerin. Beide waren klug und schön und aus guten Familien. Eines Tages reisten sie in den Ferien nach Deutschland. Das war noch vor dem Ersten Weltkrieg. Dort fuhren sie umher und sahen sich alles an. Eben dort bemerkte Genosse Twerin eine Ungerechtigkeit, er sah sie und zeigte sie Lenin. Und schlug gleich vor, diese deutsche Ungerechtigkeit zu korrigieren. Lenin aber war besonnen. „Nein“, sagte er. „Zuerst schafft man zu Hause Ordnung, und dann erst auf der Straße!“ So beschlossen es die beiden

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