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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Genossen dann auch. Vor der Zeit kehrten sie nach Russland zurück, um alles zu überdenken. Da verabredeten sie dann miteinander, dass, wenn einer von ihnen starb oder im Kampfe fiel, der andere die Sache auf jeden Fall zu Ende führen sollte. Und so geschah es auch. Genosse Lenin starb an einer feindlichen Kugel, und Genosse Twerin vergaß sein Versprechen nicht und führt nun schon viele Jahre die Sache zu Ende.

    Als er fertig gelesen hatte, verstand Dobrynin den zwei­fachen Sinn dieser Erzählung. Es bedeutete als Erstes, dass man jede Sache zu Ende führen musste, und zweitens ging es um die Ordnung zu Haus und auf der Straße. Dobrynin fiel ein, dass auch sein Vater immer gern gesagt hatte: „Das Ende ist der Sache Siegerkranz.“
    Da klappte Dobrynin das Buch zu, schob es an den Rand des Tisches, stippte die nicht aufgegessene Scheibe Brot nun in den Salznapf und begann versonnen zu kauen.
    Die Nacht nahm ihren Fortgang. Sie war trocken und still.
    Waplachow schnaufte kaum hörbar von Zeit zu Zeit.
    ‚Was für Gedanken wohl durch diesen grauen Kopf wandern?‘, dachte der Volkskontrolleur.
    Danach blies er die Kerze aus und blieb in vollkommener Dunkelheit am Tisch sitzen, während er einer fernen, fremden Grille lauschte.

    Am nächsten Tag, beim Mittagessen in der Kantine, sahen Dobrynin und Waplachow Tanja Seliwanowa. Sie tranken bereits ihr flüssiges Kompott, als ein ganz kleines Mädchen von etwa zehn Jahren in die Kantine hereinschaute und mit dünnem Stimmchen rief: „Tanja Seliwanowa zur Leitung!“ Im nächsten Augenblick erhob sich hinter dem Tisch, der am nächsten zur Tür stand, eine hochgewachsene, füllige junge Frau mit kurzem rotem Haar. Der dunkelblaue Arbeitsanzug stand ihr sehr gut.
    „Ich komme!“, sagte sie zu dem kleinen Mädchen, das schon hinter der Tür verschwand.
    Dobrynin und Waplachow sahen sich an.
    An diesem Abend beendeten sie ihre Arbeit früher – zu­sammen mit der ersten Schicht. Nachdem sie alle Zigaretten­päckchen, die sie aus den Taschen herausgefischt hatten, in ein Papier gewickelt hatten, gingen sie hinaus und stellten sich an den Arbeiterinneneingang zu den Mantelwerkstätten. Lange mussten sie nicht warten. Tanja Seliwanowa kam als eine der ersten heraus. Anstelle des blauen Arbeitsanzugs trug sie einen sehr hübschen fliederfarbenen Kleiderrock.
    „Genossin Seliwanowa!“, rief Dobrynin sie an.
    Die junge Frau blieb stehen und blickte fragend auf den unbekannten Mann, der ihr in den Werkstätten bereits öfter einmal begegnet war.
    „Ich bin Volkskontrolleur Dobrynin, und dies ist mein Gehilfe, Genosse Waplachow.“
    Die junge Frau wurde nervös.
    „Machen Sie sich keine Sorgen, wir würden nur gern mit Ihnen sprechen“, sagte Dobrynin schon weicher.
    „Habe ich Ausschuss produziert?“, fragte Tanja erschrocken.
    „Nun ja, also nicht ganz.“ Dobrynin seufzte. „Aber … kommen Sie mit zu uns, dann sprechen wir darüber!“
    Während sie die Straße entlang liefen, ging Tanja alles Mögliche durch den Sinn. An einer Stelle hätte sie sich sogar am liebsten in einen Hofdurchgang gestürzt und wäre weglaufen, so weit sie konnte. Aber alles kam anders, als sie es erwartet hatte.
    Nachdem sie das kleine Häuschen betreten hatten, baten die beiden Männer sie als Erstes, sich an den Tisch zu setzen, dann begannen sie geschäftig Tassen herauszuholen, den Petroleumkocher anzuzünden und einen Teekessel aufzusetzen.
    Und alle Ängste und Befürchtungen vergingen vollends, als Genosse Waplachow, ein, so schien es, noch junger, doch schon vollkommen ergrauter, angenehmer Mann, ihr plötzlich zuzwinkerte, während Dobrynin, vor seinem Bett kauernd, in einem Reisesack wühlte.
    Endlich saßen alle drei um den Tisch. Das Wasser kochte, und sie überbrühten den Tee direkt in den Tassen. Dobrynin streckte den Arm aus und stellte eine Blechdose mit raffiniertem Zucker vom Fensterbrett auf den Tisch. Darauf erhob er sich, nahm von einem Schränkchen ein Päckchen und hielt es der jungen Frau hin.
    Sie wickelte das Päckchen aus, und verlegene Röte schoss ihr in die Wangen.
    „Es ist ja nicht schlimm“, sagte Dobrynin, wobei er Tanja ansah. „Wir verstehen ja, dass das alles für den Sieg ist …“
    Die junge Frau schwieg mit gesenktem Blick.
    „Aber die Sache ist die, dass wir keine Mäntel mit zuge­nähten Taschen an die Front schicken können …“, sagte Dobrynin, sich gleichsam rechtfertigend. „Wir haben niemandem etwas gesagt, wir wollten nur

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