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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Weise seine Schule samt den Schülern und auch die geliebte Frau verraten hatte; sie, die für ihn nicht nur eine Frau war, sondern auch, weltanschaulich gesehen, die ihm am nächsten stehende Gefährtin. Darunter litt er sehr, ja es tauchten sogar kleinmütige, feige Gedanken in ihm auf, die ihm rieten, hinzugehen und sich zu stellen, alles zu erzählen und die gerechte Entscheidung über sein Schicksal zu erwarten. Aber da er kein dummer Mensch war, verstand Banow, dass eine gerechte Entscheidung über sein Schicksal auch zu zwanzig Jahren Gefängnis oder zur Erschießung führen konnte. Daher lauschte er diesen Gedanken geduldig, folgte ihrem Rat aber nicht.
    So begann er bereits zu überlegen, wie er seinen Alltag unter dem Kreml verbessern könnte. Als Erstes ging er daran, sich eine eigene Laubhütte unweit von der Laubhütte des Kremlträumers aufzubauen. Den Platz hatte er schon ausgewählt, zwischen drei Tannen, für Außenstehende kaum bemerkbar und durchaus sicher. Auch hatte er schon Äste dort­-hin geschafft, nur bis zum Aufbau der Hütte selbst war die Sache noch nicht gediehen. Denn Banow hatte nun viel Arbeit, der Alte hatte ihn umgehend zu seinem Sekretär ernannt, und Banow war sogar glücklich über dieses Vertrauen.
    Genau wie zuvor brachte ein Bote jeden Tag zwei Säcke: einen mit Briefen, einen zweiten mit Päckchen und Paketen. Der Alte öffnete jetzt nur noch die Päckchen und Pakete, die Briefe überließ er Banow. Er bat Banow, die interessantesten zur Seite zu legen und die gewöhnlichen und uninteressanten zurück in den Sack zu stecken, um sie am nächsten Tag dem Boten zu geben – für die nächste Lieferung ans Institut des Marxismus-Leninismus.
    So saß nun Banow vom Frühstück bis zum Mittagessen und vom Mittagessen bis zum Abendessen über einer end­losen Zahl von Briefen. Interessante Briefe gab es wenige, aber es gab sie immerhin. Jemand aus der fernen sibirischen Einöde war nicht einverstanden mit den „Aprilthesen“, die der Kremlträumer viele Jahre zuvor verfasst hatte, und schrieb ihm seine Argumente. Jemand schlug seine eigenen Über­legungen für künftige Schriften des Kremlträumers vor. Viele Briefe begannen mit den Worten „Lieber Ekwa-Pyris!“. Nachdem er den ersten solchen Brief durchgelesen hatte, in dem der Schreiber „Ekwa-Pyris“ darum bat, ihm „eine erfolgreiche Jagd zu schicken“, fiel Banow ein, dass der Kremlträumer ihn irgendwann einmal wegen dieses eigenartigen Namens gefragt hatte. Banow fiel auch ein, dass sie damals zu dem Schluss gekommen waren, der Name des Kreml­träumers übersetze sich auf diese Weise in irgendeine Fremdsprache. So war es wohl auch.
    An den Abenden tranken sie Tee mit Zitrone und träumten zusammen. Es träumte natürlich der Kremlträumer, Banow hörte ihm nur zu, wobei er von Zeit zu Zeit wegdöste, und wieder aufgewacht nickte er und stimmte allen Plänen und Träumen des Alten zu.
    Nach einer Weile beauftragte der Alte Banow damit, gleich selbst auf die interessanten Briefe zu antworten und ihm dann die Antworten zu zeigen und zur Unterschrift vorzulegen.
    Hier bemerkte Banow dann auch, dass der Alte die Briefe mit „Ekwa-Pyris“ unterschrieb. Anscheinend gefiel ihm diese Übersetzung seines Namens.
    So verging die Zeit. Der Sommer neigte sich seinem Ende zu. Doch die Vögel sangen wie zuvor und machten sich nicht daran, nach Süden zu fliegen. Vielleicht, weil es auf den Wiesen unter dem Kreml weder Süden, noch Norden gab. Alle Himmelsrichtungen waren hier gleich, wie es sich für sie in der Welt der allgemeinen Gleichheit auch gehörte. Nur aus den Stempeln auf den Päckchen und Briefen erfuhr Banow, was sie oben wohl für einen Monat hatten. Und er erkannte aus den Stempeln, dass der Sommer bald vorbei war und es auf den Herbst zuging.
    Alles war gut, nur eines mochte der ehemalige Schuldirektor nicht: Er mochte sich nicht jedes Mal verstecken, wenn der Soldat dem Alten Essen brachte.
    Da versprach der Kremlträumer ihm, mit dem Soldaten zu reden und dem Burschen von Banow zu erzählen. Der Alte war überzeugt davon, dass der Soldat Banow nicht verraten würde.
    „Er ist ein guter Bursche“, sagte der Alte. „Er hat mich oft zum Thema Konspiration ausgefragt, und er bringt mir Tee und Zitronen mit. Bald werde ich ihn bitten, Zeitungen mitzubringen …“
    Doch die Zeit verging, der Alte hatte es dem Soldaten immer noch nicht gesagt, und Banow musste sich weiter verstecken und, irgendwo unter einer Tanne

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