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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Banow die Petrowna froh. Er schloss die Schule ab, kehrte dann in sein Arbeitszimmer zurück und rief Karpowitsch an.
    „Hör mal, komm doch gleich zu mir!“, sagte Banow zu ihm. „Es ist schönes Wetter, wir trinken einen Tee. Magst du die Höhe?“
    „Ja.“
    „Dann steigen wir aufs Dach. Dort oben gibt es viel zu sehen!“
    „Gut“, sagte Karpowitsch. „In einer halben Stunde bin ich da.“
    Banow verlor keine Zeit, stellte den Teekessel auf den Primuskocher, sah nach, ob Zucker da war, und holte Tassen heraus.
    Die Uhr zeigte viertel vor sechs. Der Himmel war wolken­los und versprach Sterne.
    Banow empfing seinen alten Kampfgefährten unten und schloss hinter ihnen die Tür ab. Sie gingen im Arbeitszimmer vorbei und holten den Teekessel, den Zucker und die Tassen. Dann stiegen sie aufs Dach und traten hinaus.
    Sie machten es sich an Banows Lieblingsplatz gemütlich, dort, wo er so oft mit Klara Rojd saß – ganz oben, von wo aus es nicht mehr weiterging.
    „Wie geht es dir?“, fragte der Schuldirektor.
    „Na ja, es geht so“, antwortete Karpowitsch ohne besondere Begeisterung. „Ich habe mich nur mit dem Dichter gestritten.“
    „Mit welchem Dichter?“
    „Mit dem Kremldichter. Da wohnt so einer bei uns, Tatare vermutlich, Bemjan Debnyj …“
    „Und wieso habt ihr euch gestritten?“
    „Ach!“ Karpowitsch winkte ab. „Kleinkram! Laut Anweisung soll ich allen handschriftlichen Papierabfall, der im Kreml gesammelt wird, zum Abfall des NKWD bringen, und das habe ich auch getan, wie es sich gehört, kümmert mich ja nicht, was für ein Abfall das ist! Aber dieser Bemjan hat seine Gedichte verloren, sagt, sie hätten auf einer Fensterbank gelegen und der Wind hätte sie heruntergeweht. Also sage ich ihm, er soll zum Tschekistenabfall gehen und suchen, da sagt der Schuft, ich soll selbst hingehen und suchen … Hol’ ihn der Teufel!“
    „Recht hast du!“, pflichtete Banow ihm bei. „Völlig richtig gemacht!“
    Auf dem Dach war es kühl. Ein ziemlich starker Wind wehte, der klare, wolkenlose Himmel aber schimmerte tiefblau, und hier und da zeigten sich die ersten goldenen Sterne.
    Banow liebte solche trockenen Herbstabende auf dem Dach über alles, und je kühler und windiger es war, desto köstlicher erschien ihm dann der Tee. Mit der Wärme des Tees füllte sein Organismus sich in solchen Momenten mit ungewohnter, aber sehr angenehmer Wachheit und Kraft. Diese Kraft ließ Banow gleichsam von innen die Brust schwellen, und gierig betrachtete er die abendlichen verlassenen Gassen, auf Jägerart mit scharfem Blick, als hielte er Ausschau nach Feinden.
    „Der Tee ist gut“, sagte Karpowitsch, nachdem er an seiner Tasse genippt hatte.
    Banow nickte.
    „Ich trinke immer Tee“, sagte er unbestimmt, gleichsam ins Nichts hinein. „Ja, ja. Sag mal, wie steht es eigentlich um den Kremlträumer?“
    „Gut. Heute Morgen habe ich ihn noch gesehen. Er sitzt da, wärmt sich in der Sonne und träumt laut vor sich hin. Ich hätte ihm gern zugehört, aber ich hatte keine Zeit …“
    Banow sah Karpowitsch an und er erkannte, dass er diesen Menschen ein wenig beneidete. Das war ja doch allerhand! Mit einer Leichtigkeit, als ginge es um die allereinfachsten und gewöhnlichen Dinge, sprach er davon, dass er gerade erst diesen Morgen den Kremlträumer gesehen hatte, den seit langem alle für tot hielten! Wie viele Geheimnisse waren ihm zugänglich!
    „Wassja“, sagte Banow erneut. „Könnte man es irgendwann so einrichten, dass auch ich ihn einmal sehe? Ihn nur einmal eine Minute lang anschaue?“
    Karpowitsch dachte nach.
    Banow sah ihn voll gespannter Erwartung an.
    „Ich habe da einen Landsmann unter den Wachleuten“, begann Karpowitsch. „Ich versuche mal mit ihm zu reden. Morgen früh hat er Dienst, glaube ich … Morgen rede ich mit ihm, und du ruf mich am Abend an!“
    Am nächsten Abend rief Banow Karpowitsch an.
    „Wir versuchen es!“, sagte sein alter Kampfgefährte, und der Schuldirektor freute sich. „Treffen wir uns in zwei Tagen, am Montag, um neun morgens auf dem Roten Platz an der Richtstätte!“
    „Gut!“, antwortete Banow. „Ich komme auf jeden Fall.“
    Am Montag spazierte Banow bereits um acht Uhr morgens um die Richtstätte herum. Noch am Samstag hatte er Vizedirektor Kuschnerenko angekündigt, dass er am Montag in den Kreml gehen werde und von dort vielleicht etwas später zurückkomme. Kuschnerenko war natürlich stark beeindruckt gewesen.
    Zu dieser Stunde gab es auf dem

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