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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Parlachow ruhig zurück.
    Mark wartete reglos. Die schon gewohnte, und doch so unangenehme Dunkelheit der Augenbinde ließ ihn die Augen schließen. Wo stand er in diesem Augenblick? Wer schaute auf ihn? Was war er für sie? Vielleicht hatte jener Dicke auf der Krim, im Sanatorium „Ukraina“ ja Recht gehabt, der später gemeinsam mit der Statue erschlagen wurde? Was hatte er damals gesagt? Dass Mark ein Schmarotzer sei? Nur ein Parasit des Vogels?
    „Liebe Genossen selbstlos Werktätige der Fabrik N!“ Parlachows Stimme riss Mark aus seinen quälenden Überlegungen. „Die Heimat denkt an euch, die Heimat weiß von eurem Heldentum! Hier wird jetzt, in diesen Minuten der Schichtpause, der Moskauer Künstler Iwanow mit seinem Papagei Kusma vor euch auftreten. Möge dieser kurze Auftritt euch helfen, für einen Augenblick die Mühen und Entbehrungen zu vergessen und an eure Lieben zu denken, an jene unter ihnen, die unser großes Land vor dem faschistischen deutschen Feind verteidigen!“
    Mark konzentrierte sich, ohne die Augen zu öffnen. Er wartete auf die Pause. Dann sprach er recht laut: „Also, Kusma, trag vor!“
    Mikrofon gab es hier natürlich keines, doch an der Lautstärke von Kusmas Stimme erkannte Mark, dass es ein kleiner Saal war.

    „Da draußen ist Mitternacht, der Tag ist beendet,
    die Kerze verlischt schon, und hoch stehn die Sterne“,

    deklamierte Kusma.

    „Und du, meine Liebe, du schreibst mir und sendest
    den Brief an des Krieges Adresse: ins Ferne.“

    Mark lächelte. Ihr Auftritt begann anständig. Noch kein einziges Mal hatte Kusma ihn je im Stich gelassen, und dennoch spürte Iwanow die Aufregung vor jedem Auftritt: immerhin hing er wirklich stark von dem Vogel, von diesem schönen, klugen Vogel, ab …
    Kusma indessen fuhr, ohne zu stocken, fort:

    „Doch ich bin mir sicher: zur vordersten Linie
    wird solch einer Liebe der Durchbruch gelingen …
    So weit liegt zu Hause. Das Licht unsrer Zimmer
    Glimmt hinter dem Rauch des Krieges im Morgen.
    Doch dessen gedacht wird, erwartungsvoll immer,
    der ist auch im Rauche des Krieges geborgen.“

    Da hörte Mark ein Frauenschluchzen und wurde auch selbst gleichsam von der zu Tränen rührenden Wärme dieses Gedichts durchdrungen. ‚Utkin ist wahrhaftig ein großer Dichter!‘, schoss es ihm durch den Kopf. Auf einmal verflog dieser Gedanke und ließ den Künstler, der nichts sah, allein mit den weiblichen Schluchzern zurück. Ihm wurde schwer ums Herz, und Tränen stiegen ihm in die Augen. Eine löste sich von seinem linken Auge und rann langsam über die eingefallene, an diesem Tage nicht rasierte Wange. Die Träne blieb in den spärlichen Stoppeln hängen. Seine Hand zuckte und wollte die Träne wie von selbst vom Gesicht wischen, doch seine Konzertdisziplin, ein gleichsam angeborener Instinkt, ließ es nicht zu.
    Und so vergaß Mark diese in den Bartstoppeln hängende Träne. Er sann darüber nach, dass er nie einen Brief bekam und es im Grunde auch keinen gab, der an ihn denken konnte, niemanden, der ihm Briefe schreiben konnte.
    Da erinnerte sich Mark an die liebe, hellblonde junge Frau, die das Essen in der Kantine der Moskauer Wasserleitungsarbeiter ausgab. Vielleicht liebte dieses Mädchen ihn? Vielleicht dachte sie an ihn? Denn nicht zufällig hatte sie ihm doch stets größere Portionen als den anderen aufgetan?
    Kusma fuhr unterdessen fort:

    „Dann kommt für uns beide ein ruhiger Abend,
    wir schmiegen uns Schulter an Schulter und lesen
    noch einmal die Briefe als Chronik der Liebe
    und fühlen, wie stark unsre Hoffnung gewesen.“

    Der Papagei verstummte, aber Mark bemerkte es nicht. Mark war tief in sich selbst versunken.
    Da rüttelte ihn eine Hand an der linken Schulter und rief ihn in die Wirklichkeit zurück.
    „Von wem war das Gedicht? Hörst du? Von wem, sag es!“ Parlachows warmes Flüstern blies ihm ins linke Ohr.
    Mark kam zu sich, erkannte seinen Fehler, hustete sofort, um die Stimme frei zu machen, und verkündete: „Sie hörten das Gedicht von Josif Utkin ‚Du schreibst‘ …“
    Im Raum klapperten Hocker und Stühle, die über den Holzboden hin- und her geschoben wurden. Nun gingen die für Mark unsichtbaren Zuhörer und Zuhörerinnen an ihre großen und kleinen Maschinen in der Fabrik N davon.
    „Gib ihn mir rüber!“, sagte Hüter Parlachow, während er Kusma von der rechten Schulter des Künstlers nahm und zurück in den Käfig setzte.
    Mark war erneut tief irgendwo in sich selbst versunken. Ihm kam

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