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Der unersättliche Spinnenmann

Der unersättliche Spinnenmann

Titel: Der unersättliche Spinnenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pedro Juan Gutierrez
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immer noch weiter. Das ärgert mich gewaltig, und ich höre nicht mehr zu. Sie erinnert mich an meine Mutter, die auch, seit sie ein kleines Kind war, vom Morgen bis zum Abend Unsinn redet. Sobald sie schweigt, überfällt sie eine entsetzliche depressive Melancholie. Ich vermute, sie kann niemals irgendetwas Positives denken. Sie denkt immer negativ. Ada muss ein ähnlicher Fall sein. Ich brauche einen Vorwand, um auflegen zu können. Da sagt sie:
    »Hör mal, bist du überhaupt noch da? Hörst du mich?«
    »Ja, ja.«
    »Ah. Ich sagte gerade, dass die Ehe immer beschissen ist. Sieh mal, Berta hat mir gerade erzählt, dass sie bei ihrem Mann nichts mehr fühlt. Sie sagt, wenn der sie anfasst, dann ist es, als ob ein Kind sie berührt, hahaha. Sie meint, du hast eine sehr hübsche Stimme. Du musst mal herkommen, damit ihr euch kennen lernen könnt. Ich mache euch miteinander bekannt, hahaha. Sie hält sich gut in Form, hahaha.«
    »Ada, Ada, nun mal langsam. Hör zu, ich warte grad auf einen Anruf und …«
    »Ja, ja. Ich hör ja schon auf, wir haben ja schon ‘ne Menge geredet. Ruf mich mal an. Immer wartest du, bis ich anrufe. Du bist und bleibst ein alter Faulpelz. Ciao.«
    Sie legte auf. Ich drehte Brahms wieder ein bisschen lauter. Das Allegro am Schluss beginnt. Ich schloss die Augen und hörte eine Weile zu. Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz im Backenzahn. Einen leichten, aber langen und tiefen Schmerz. Ich habe Angst vor dem Zahnarzt und kann mich nie entschließen hinzugehen. Jetzt konzentriere ich mich auf den Schmerz, versuche, ihm beizukommen, indem ich mich mit Brahms entspanne. Warum nicht? Ich konzentriere mich voll auf die Musik, da ertönt plötzlich ein lautes Krachen. Der Fußboden zittert. Sie demolieren gerade ein altes Gebäude neben unserem Haus. Der Malecón soll ein bisschen aufgeräumt werden. Ich gehe auf die Dachterrasse hinaus, um zu sehen, was los ist. Sie haben gerade eine Wand eingerissen. Es war ein dreistöckiges Haus, das seit Jahren leer stand und abwechselnd von Dutzenden Menschen bewohnt wurde. Sie drangen heimlich ein und ließen sich häuslich nieder. Keine Ahnung, wie sie sie rausgeholt und wo sie sie hingebracht haben. Niemand hat was gesehen. Vielleicht haben sie es im Morgengrauen gemacht. Jetzt wird es eilig von acht oder zehn jungen Leuten abgerissen. Fast alle schwarz. Sie sehen aus wie Ameisen. Laufen rein und raus, die Treppen hoch, schlagen die Wand ein, holen Ziegelsteine raus und klopfen sie sauber, um sie für einen Peso das Stück zu verkaufen. Sie haben schon Tausende Ziegel verkauft. Sie balancieren und springen zwischen Staubwolken von einem Balken zum anderen, während die Mauerstücke zu Boden fallen. Mir scheint, als wären sie immer kurz davor abzustürzen. Sie müssen aus dem Osten Kubas stammen. Die Leute aus Havanna sind zu clever, als dass sie für ein paar Pesos ihre Haut riskieren würden.
    Die Nachbarin kommt mit einer Tasse Kaffee zu mir herüber, eine allein stehende Alte von fast achtzig Jahren. Unsere beiden Dachterrassen sind nur durch eine niedrige Mauer getrennt, auf der ein paar Blumenkübel mit Pflanzen stehen. Das ist eine symbolische Grenze. Wir verstehen uns gut. Sie zählt auf mich, damit ich ihrer Familie Bescheid sage, wenn sie stirbt: »Außer meiner Tochter sagst du allen Bescheid. Meinen beiden Brüdern und meiner Schwester. Meiner Tochter aber nicht!«
    Mit ihrer Tochter und ihren drei Enkelinnen hat sie sich vor Jahren zerstritten. Ich habe die Telefonnummern von allen. Ich sage ihr immer:
    »Mach dir keine Sorgen. Denk nicht an so was. Es ist nicht gut, an den Tod zu denken.«
    Doch sie weiß oder ahnt, dass ich ihrer Tochter und ihren Enkelinnen doch Bescheid geben werde, sobald ich sehe, dass sie alle viere von sich streckt. Jeden Tag redet sie mehr vom Tod und den Geistern, die ihr erscheinen. Sie will, dass man eine Autopsie bei ihr macht, sie hat furchtbare Angst, man könnte sie lebendig begraben. Sie erzählt mir von zahllosen Fällen, mit Vor- und Nachnamen und genauem Datum, von Leuten, die lebendig begraben wurden und die man dann als Skelett mit dem Gesicht nach unten im Sarg fand.
    »Wenn du willst, kannst du dich ja einäschern lassen.«
    »Ja, aber da muss ich erst zum Friedhof gehen und einen Vertrag unterschreiben und dreißig Pesos im Voraus zahlen.«
    »Du bist ja richtig gut informiert! Davon hatte ich keine Ahnung.«
    »Das ist halt so. Ich kann aber nicht mehr zum Friedhof gehen. Das ist sehr

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