Der unglueckliche Moerder - Roman - Ausgezeichnet mit dem Skandinavischen Krimipreis
Leidest du neuerdings an Aphasie?«
»Es geht nicht gerade voran«, erklärte Reinhart. »Was willst du eigentlich? Über jedes verdammte Detail informiert werden?«
Van Veeteren drehte sich noch eine Zigarette und zündete sie an.
»Ja«, sagte er. »Jedes verdammte Detail, bitte.«
Das dauerte seine Zeit, und als Reinhart fertig war, wurde auf der Bühne schon musiziert. Nur ein Pianist und eine dunkelhäutige leise Sängerin, es war also nicht schwer, sich Gehör zu verschaffen. Van Veeteren ging auf, dass seine Vorurteile nicht zutrafen — die Sängerin hatte eine angenehm leise Stimme, die ihn an siedenden Samt erinnerte (wie immer Samt zum Sieden gebracht werden konnte und sich dabei anhörte), und während Reinhart berichtete, entstand auf diese Weise eine angenehme Distanz zu seinen Worten. Die Musik hüllte Erichs Tod und die dazugehörigen Umstände in eine Art behutsame, fast sinnliche Decke. Er wusste plötzlich, dass das Erich gefallen hätte.
Trauer und Leid, dachte er. Wir kommen nicht daran vorbei. Das Einzige, was wir tun können, ist, es mit offenen Armen anzunehmen und ihm die richtige Wendung zu geben. Es einzubetten, wie gesagt. In Kunst oder Rituale oder welche Formen auch immer uns zur Verfügung stehen ... nur dürfen wir es nicht wie Wollmäuse in der Ecke liegen lassen.
»So sieht es also aus«, endete Reinhart. »Wir haben also den Mörder gefunden, es ist dieser Kerl aus der Bar. Er muss es sein, alles weist darauf hin, aber wir haben keine haltbare Hypothese darüber, was Erich da draußen getan hat. Oder tun wollte. Wir können nur spekulieren, aber ich würde dich belügen, wenn ich behaupten würde, wir hätten noch mehr.«
»Ich verstehe«, sagte Van Veeteren.
Reinhart machte sich eine Weile an Pfeife und Tabak zu schaffen und machte ein zweifelndes Gesicht.
»Es ist dir doch immer noch sehr wichtig, dass wir ihn finden, oder?«
Van Veeteren betrachtete kurz die Sängerin, bevor er antwortete. Sie bedankte sich für den spärlichen Applaus und erklärte, dass jetzt eine kurze Pause folgen werde.
»Ja«, sagte er. »Das wird mir jeden Tag wichtiger. Anfangs war mir das gar nicht so klar, aber es scheint fast in den Genen zu wurzeln ... man muss den Mörder seines Sohnes finden.«
»Es wurzelt zumindest in der Kultur«, sagte Reinhart. »Und in der Mythologie.«
»Scheißegal, ob Mythos oder nicht«, sagte Van Veeteren. »Ich will, dass ihr ihn findet. Werdet ihr das tun?«
»Das habe ich dir doch schon versprochen«, sagte Reinhart.
Van Veeteren dachte eine Weile nach.
»Würdest du es mir übel nehmen, wenn ich mich einmischte?« , fragte er.
Reinhart hob sein Glas.
»Ich würde es verdammt seltsam finden, wenn du das nicht machen würdest. Prost!«
»Prost«, sagte Van Veeteren und trank aus. »Nein, geh jetzt nach Hause und kümmere dich um deine Tochter. Ich glaube, ich bleibe noch ein bisschen und höre mir diese Sängerin noch einmal an.«
»Das ist richtig so«, sagte Reinhart und stand auf.
17
Am Freitag fuhr er nach Feierabend zu seinem Vater. Er war seit über zwei Monaten nicht mehr bei ihm gewesen, und es war eine Möglichkeit, Zeit totzuschlagen. Das Oesterleheim lag in Bredenbuijk, ein Stück hinter Loewingen, er fuhr über Borsens, um dem ärgsten Verkehr auszuweichen, und kam gleich nach dem Essen dort an.
Sein Vater saß wie üblich im Bett und musterte seine Hände. Er brauchte sonst immer eine ganze Weile, um den Alten zum Hochschauen zu bewegen, diesmal aber gelang es ihm sofort. Er hatte kaum den Stuhl an die Bettkante ziehen und darauf Platz nehmen können, als sein Vater auch schon langsam den Kopf hob und ihn aus seinen rot unterlaufenen, wässrigen Augen ansah. Möglicherweise lag eine Sekunde lang ein Wiedererkennen in diesem Blick, aber vielleicht war das auch nur Einbildung.
Warum sollte er ihn gerade an diesem Tag erkennen, wo ihm das seit sechs Jahren nicht mehr gelungen war?
Nach einer halben Minute senkte das Kinn sich langsam zurück auf die Brust, und der Vater vertiefte sich in den Anblick seiner Hände, die auf der blauen Decke lagen und sich in langsamen, sich immer wiederholenden Bewegungen umeinander drehten.
Er blieb zehn Minuten dort sitzen. Länger konnte er es nicht ertragen. Er sah keine Schwester oder Pflegerin, die ihm bekannt vorkam, und deshalb machte er sich nicht die Mühe, sich nach dem Befinden des Vaters zu erkundigen.
Wie geht es ihm? Geht es ihm gut?
Das waren sinnlose Fragen. Waren seit Jahren
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