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Der Ungnädige

Der Ungnädige

Titel: Der Ungnädige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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gewesen, wenn Kinder über Missbrauch aussagen müssen? Nein? Absolut peinlich. Perücken runter, Roben aus. Anwälte und Richter säuseln nur rum, wahnsinnig behutsam und verständnisvoll. Und alle tun, als wäre nichts weiter dabei und alles ganz harmlos. Nicht auszuhalten. «
    » Sie ergreifen doch nicht etwa Partei für den Angeklagten? « Mir waren schon mehr Einhörner begegnet als Kriminalbeamte, die Tränen für den Menschen auf der Anklagebank vergießen.
    Derwent lachte. » Das nun nicht gleich. Aber ich hasse Fälle, in denen die Zeugen ganz offensichtlich Märchen erzählen, die kein Schwein hinterfragt. So einen peinlichen Fall würde ich nicht vor Gericht bringen, auch wenn ich damit gute Chancen auf Erfolg hätte. Ich habe schon erlebt, wie Anwälte einen Prozess verloren haben, den sie klar hätten gewinnen müssen, weil die Geschworenen Beweise einfach ignoriert haben. Und umgekehrt hab ich Prozesse gesehen, die total zu Unrecht gewonnen wurden. Beides kann ich nicht ab. Ich steh mehr auf Fairness. «
    Ich verbuchte dies als interessanten Einblick in Derwents Gedankenwelt. Eigentlich hätte ich gedacht, dass er zu denen gehörte, die um jeden Preis gewinnen wollen. Wenn wir längerfristig zusammenarbeiten mussten, war es wichtig, ihn einschätzen zu lernen und nicht vorschnell über ihn zu urteilen. Er war auf jeden Fall ein eigenwilliger Kerl, den Godley aus gutem Grund ins Team geholt hatte. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, worin dieser Grund bestand. Das würde mir die Arbeit wesentlich erleichtern.
    » Tja, egal ob schuldig oder unschuldig– eine Gefängnisstrafe war für Palmer wahrscheinlich das Beste. Dort war er wenigstens geschützt. Immerhin hat er den Knast heil überstanden, während er draußen sofort dran war. « Kinderschänder standen in der Hierarchie der Gefängnisinsassen bekanntlich ganz unten, wurden allerdings im Allgemeinen auch separat untergebracht. Erst nachdem er entlassen worden war und wieder Fuß zu fassen versuchte, kam die Spirale aus Schikane, Bedrohung und schließlich Mord in Gang. » Scheint so, als wäre er schon lange vor dem Mord ein Opfer von Vorurteilen gewesen. Insofern habe ich schon Mitleid mit ihm. Und sowieso, ganz abgesehen von dem, was er getan hat oder auch nicht– niemand hat so einen Tod verdient. «
    An einer Kreuzung mussten wir in der Rechtsabbiegerspur warten, was Derwent die Gelegenheit gab, sarkastisch Beifall zu klatschen. » Wunderschön ausgedrückt. Wenn es bei der Polizei mal nicht so läuft, könnten Sie vielleicht auch eine juristische Laufbahn in Erwägung ziehen. Nach so einer Rede heult wahrscheinlich jeder Richter in seine Perücke. «
    » Klingt ganz wie meine Mutter. Die wollte immer, dass ich Anwältin werde. «
    » Gefällt es ihr etwa nicht, dass Töchterlein zur Polizei gegangen ist? «
    Ich schüttelte den Kopf. » Wenn ich Juristin geworden wäre, hätte sie bestimmt gern damit angegeben. Medizinerin oder Tierärztin wär ihr auch recht gewesen. «
    » Ist sie Irin? «
    » Ja. Mein Vater auch. Aber ich bin in London geboren. «
    » Der Dialekt ist mir schon aufgefallen, oder besser gesagt, dass Sie keinen haben. Aber mit so einem Namen kann man irische Wurzeln auch nur schwer verbergen. « Wieder ein Seitenblick in meine Richtung. » Außerdem sehen Sie auch ziemlich irisch aus. Ganz die Irish Colleen. «
    Wenn ich eins hasste, dann war es, wenn mich jemand Colleen nannte. Welten lagen zwischen diesem Etikett und dem Kosenamen, der mir als Kind immer Musik in den Ohren war: caitlín alainn – so hatten mich meine Eltern oft genannt, mein reizendes Mädchen. Aus ihrem Mund hatte es immer liebevoll geklungen, aber wenn Derwent es sagte, wurde es zur Diffamierung. 800 Jahre unerwünschte Aufmerksamkeit schwangen in diesem Wort mit.
    Ich bedauerte es sehr, dass ich von ein paar Brocken abgesehen kein Gälisch sprach und daher auch nie in dieser Sprache denken würde. So blieb mir ein tieferes Verständnis dieser Kultur verwehrt. Es half auch nicht gerade, dass meine jüngeren Verwandten in Irland ständig darüber jammerten, dass sie in der Schule Gälisch lernen mussten. Sie hassten es aus tiefster Seele, wenn sie sich in dieser Sprache äußern mussten, und verwendeten sehr viel Energie darauf, sie so schnell wie möglich wieder zu vergessen. Trotzdem hatten sie im Gegensatz zu mir Zugang dazu. Fakt war, dass mich Engländer als Irin ansahen und Iren als Engländerin. Nirgends fühlte ich mich wirklich zugehörig, was

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