Der Ungnädige
Er war so liebevoll. Ich dachte, er würde mich retten. «
» Gezielte Manipulation « , merkte Godley an.
» Ja, auf jeden Fall. Aber das habe ich erst viel später begriffen. In diesem Moment dachte ich allerdings, dass er mein rettender Engel ist. Als er gehen wollte, hat er das Tablett stehen lassen– und ich hab ihn angefleht, mich nicht allein zu lassen, ja, wirklich. Und als ich mich dann wieder einigermaßen im Griff hatte, hab ich gesehen, dass da mein Pass lag. Ich konnte mir überhaupt nicht erklären, wie der dort hingekommen war, und wusste ganz genau, dass ich ihn an dem Abend in dem Lokal nicht bei mir hatte. Beim nächsten Mal hat es Vincent genauso gemacht. Nachdem– Lee hieß er, ja?– mich wieder gequält hatte, hat er eine Uhr neben meinem Bett stehen lassen. Das war der Wecker von meinem Nachttisch zu Hause. Also mussten sie in meiner Wohnung gewesen sein und meine Sachen durchwühlt haben. Wenn Lee reinkam, hab ich ihn immer wieder danach gefragt, aber er meinte nur, dass sein Bruder auf die Idee gekommen wäre. Vin– also Drew– meinte, dass es doch bestimmt nett für mich wäre, ein paar von meinen Sachen hierzuhaben.«
» Haben Sie ihn nach der Brille gefragt? « , warf ich ein.
» Ja, immer wenn ich mit ihm allein war. Er meinte, dass er danach gesucht hätte, aber meine Handtasche wäre irgendwie abhandengekommen. Er hat mir zu verstehen gegeben, dass er sich um mich kümmern würde, wenn ich nett zu ihm wäre. Wenn ich…Dinge für ihn täte…würde er auch was für mich tun. Ich dachte, wenn ich ihm vorspiele, dass ich ihn mag, würde er mir vielleicht helfen zu fliehen. Also hab ich getan, was er wollte. Alles. « Sie schluchzte kurz auf. » Bei dem anderen war es leichter, weil ich da gar keine Wahl hatte. Aber bei Vincent musste ich die Initiative ergreifen. Als ich begriffen hatte, dass genau darin der Spaß für ihn lag, hab ich mich schrecklich dafür gehasst. Er war wie eine Katze, die mit mir spielt. Er hat mir immer wieder Hoffnung gegeben, nur um sie jedes Mal zunichtezumachen. «
» Wie sah es mit dem Essen für Sie aus? «
» Nach vier bis acht Wochen sind sie nicht mehr jeden Tag gekommen. Sie haben mir zwar immer ein bisschen Essen und Wasser dagelassen, aber ich wusste ja nie, wann sie wiederkommen, und außerdem war es immer viel zu wenig. Ich musste abschätzen, wie viel ich auf einmal essen konnte. Wenn nichts mehr übrig war, waren sie zufrieden und haben darüber Witze gemacht. « Sie lächelte bitter. » Einmal haben sie mich mit nach unten in die Küche genommen und mich gezwungen, für sie zu kochen. Ich hatte seit zwei Tagen nichts gegessen, und mir war schwindlig. Statt dass ich Hunger gehabt hätte, war mir schrecklich schlecht, von daher hat es mich nicht interessiert. Aber so in der Art ging das die ganze Zeit. Sie waren grausam, nur weil sie die Möglichkeit dazu hatten. «
Ihr Tonfall verriet keinerlei Selbstmitleid, was das Ganze irgendwie noch schlimmer machte.
» Und wie lange lief das so? «
» Bis vor ein paar Monaten. Als sie die Nase voll von mir hatten. Ich war dürr, meine Zähne sahen schlimm aus, und ich war verdreckt. Ich durfte mich nicht mehr richtig waschen, weil sie mich kaum noch angefasst haben. Da spielte es keine Rolle, ob ich sauber war. Mich runter ins Bad zu lassen, war ihnen viel zu aufwendig. Ich hab dann gemerkt, dass sie irgendwas vorhatten, weil Drew total aufgedreht war. Davor hatte er wochenlang nicht mit mir geredet. Irgendwann kam er an und sagte, dass sie tolle Neuigkeiten für mich hätten, über die ich mich freuen würde, wenn ich erfahre, was es ist. Ich dachte, sie wollten mich vielleicht freilassen. Oder mich umbringen. Das war mir ehrlich gesagt egal. «
» Und wann haben Sie erfahren, worum es ging? «
» Letzte Woche. Bevor sie das Mädchen gebracht haben. Drew hat zu mir gesagt, dass es jetzt fast so weit wäre. Ich musste das Bett im grünen Zimmer neu beziehen. Er meinte, ich würde bald eine Freundin bekommen. « Sie wandte ihr Gesicht ab und schloss die Augen. » Es war unerträglich. Sie wollten es wieder tun, direkt vor meinen Augen. Und ich musste ihnen dabei auch noch helfen. «
» Haben Sie es mitbekommen, als Cheyenne dann da war? «
» Das Mädchen? « Sie lächelte gequält. » Das war nicht zu überhören. Sie hat das ganze Haus zusammengeschrien. Ohne Ende. Sie haben gedacht, dass sie irgendwann von allein aufhört, aber sie hat das ganze Zimmer demoliert. Lee ist dann zu ihr rein und
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