Der unheimliche Kommissar Morry
das Ashton Cabott im Laufe der Jahre zusammengestellt hatte, war kein Mord verzeichnet. Er verachtete jeden Eingriff brutaler Gewalt als töricht und höchst unnötig. Mörder waren in seinen Augen instinktlose, gemeine Geschöpfe. Jetzt glaubte er freilich zu wissen, daß es Gründe und Situationen gab, die sogar einen Mord geschehen lassen konnten. Aber wie sollte er in der Millionenstadt London den Mann entdecken, der sich so großspurig ,Meister' nannte? Im ersten Moment war ihm die Gnadenfrist von einer Woche sehr lang erschienen, aber jetzt, bei näherem Nachdenken, begriff er, daß es fast unmöglich sein würde, innerhalb von sieben Tagen einen Menschen zu finden, von dem man nicht mehr kannte als die wahrscheinlich verstellte Stimme.
Nun, der Mann hatte zugesagt, sich am Nachmittag nochmals zu melden. Es kam darauf an, bei dieser Gelegenheit ein paar Details in Erfahrung zu bringen, die die Nachforschungen erleichterten. Vielleicht war es möglich, ein Treffen zu arrangieren, das die entscheidende Auseinandersetzung bringen würde.
Nach allem, was bis jetzt geschehen war, stand freilich fest, daß es sich um einen kühlen und ungemein geschickten Gegner handelte, der kaum bereit sein würde, in eine plumpe Falle zu laufen. In gewisser Weise waren sie einander ebenbürtig. Nun, das machte die bevorstehende Auseinandersetzung noch spannender und reizvoller, als sie ohnehin schon war.
Ashton Cabott bemühte sich, das Ereignis mit einem Anflug von Sportsmannsgeist auszunehmen, aber das gelang ihm nur unvollkommen. Er mußte immer wieder daran denken, daß sein Name und seine Karriere, vor allem aber sein Vermögen auf dem Spiele standen.
Er fuhr mit dem Wagen in die Stadt, besuchte seinen Schneider und kaufte dann, auf der Fahrt zum Club, wo er zu essen beabsichtigte, ein paar Mittagszeitungen. Auf den Frontseiten der Blätter fand er die erwarteten Schlagzeilen. Hoteldiebstahl im Carlton. Millionendiebstahl in exklusivem Hotel.
Seine Mundwinkel zuckten spöttisch. Diese Reporter! Sie neigten stets zu Übertreibungen. Constance hatte von dreihundertfünfzigtausend Dollar gesprochen, die Zeitungsleute machten einfach eine Million daraus. Aber beim Lesen wurden seine Augen groß und weit. Der Londoner Vertreter der in Mitleidenschaft gezogenen Versicherungsagentur hatte von der New Yorker Verwaltung ein Kabel erhalten, aus dem hervor ging, daß es sich bei dem Schmuck um einen Gesamtwert von einer Million Dollar handelte.
Auf Ashton Cabotts Stirn bildete sich kalter Schweiß, als er diese Information schluckte. Eine Million Dollar! In dem Artikel wurde unter anderem erwähnt, daß der berühmte Kommissar Morry den Fall übernommen habe. Ashton krümmte beim Lesen des Namens verächtlich die Unterlippe. Er kannte den Hang gewisser Zeitungsschreiber, einen Glorienschein um die Person von Detektiven und Inspektoren zu legen, zur Genüge. Auf diese Weise hoffte man zu erreichen, daß die Leser in jedem Mitarbeiter von Scotland Yard gleichsam einen zweiten Sherlock Holmes sahen.
Aufhorchen ließ ihn ein kurzer, nebensächlich behandelter Abschnitt, in dem es hieß:
„Gleichfalls gestohlen wurde der Schmuck von Britta Britton, die im Nebenzimmer schlief. Der Wert des Schmuckes beläuft sich auf rund siebzigtausend Dollar."
Neben dem Wert von Constances Schmuck erschien die Summe ziemlich unbedeutend. Aber für Ashton Cabott, den kühlen Rechner, waren es glatte fünfundzwanzigtausend Pfund, die ihm durch die Lappen gegangen waren. Nun, er war einfach zu spät gekommen, es hatte keinen Zweck, sich noch länger darüber aufzuregen.
Im übrigen war nichts verloren. Noch gar nichts! Wenn er es schaffte. Constance zu erobern, würde er das Vielfache von dem gewinnen, was dem ,Meister' in die Hände gefallen war. Wahrscheinlich würde die Versicherung den Schaden abdecken. Oder nicht? Sie konnte Constance Fahrlässigkeit vorwerfen. Vielleicht enthielt die Police einen Paragraphen, der verlangte, daß der Schmuck auf Reisen in Safes unterzubringen sei . . .
Nun, das sollte ihn jetzt nicht weiter beschäftigen. Es kam vor allem darauf an, zwei Dinge zu erledigen. Erstens mußte er den Meister finden und unschädlich machen, und zweitens mußte es ihm gelingen, Constance Brittons Herz zu gewinnen. Nach dem Essen rief er das Carlton an, um mit Constance zu sprechen und ihr sein Mitgefühl auszudrücken, aber der Portier teilte ihm mit, daß die beiden Brittons ausgegangen seien. Nein, in Anbetracht der besonderen
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