Der unsichtbare Feind (German Edition)
unter ihren Füßen durchbog. Hektisch
zog sie ihren Fuß nach um ihn auf die darüberliegende Stufe, die wie sie
hoffte, vielleicht stabiler war, abzusetzen. Plötzlich gab das modrige Holz
unter ihrem Standbein nach. Terror durchzuckte ihren Körper.
An Tanjas Ohr drang das
Knacken des brechenden Holzes, gefolgt von einem Gefühl der Schwerelosigkeit, als
sie den Boden unter den Füßen verlor. Im freien Fall drückte es Tanja die
Eingeweide nach oben und tiefe Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie befand sich in
freiem Fall auf Kollisionskurs mit dem Wienfluss.
Plötzlich packte sie jemand
fest am Handgelenk und stoppte ihren Sturz abrupt. Tanja hing hilflos in der
Luft und ruderte wild mit ihren Füßen. Sie wusste nicht, wie tief der Abgrund
unter ihr ragte, nur dass ihre Füße nicht in den Wienfluss eingetaucht waren.
Alles was sie wollte, war fester Boden unter ihren Füßen.
„Tanja hör auf zu strampeln.
Ich ziehe dich jetzt hoch.“
Mit einem Ruck spürte sie
eine Aufwärtsbewegung. Mit ihrer freien Hand tastete sie nach einer intakten
Treppe und hievte sich weiter daran hoch. Von Panik ergriffen, krabbelte sie
auf allen Vieren zum Absatz der Treppe, wo sie massive Holzlatten unter sich spürte.
„Oh mein Gott“, sprach sie schwer
atmend.
„Alles ist gut Tanja“,
flüsterte Stark und setzte sich neben sie, „es ist nichts passiert.“
Ein leises Schluchzen drang
an Starks Ohren. Er rutschte näher an Tanja und legte behutsam seinen Arm um
sie: „Ich verspreche dir, es wird alles gut werden!“
Das Schluchzen wich lautem
Weinen und er spürte, wie sich Tanjas Kopf in seiner muskulösen Schulter
vergrub.
„Weißt du Tanja“, versuchte
er sie abzulenken, „das Bild, das du in meiner Wohnung gesehen hast, das war“,
er musste tief Luft holen, „ist“, korrigierte er sich, „meine Schwester.“
Stark kauerte neben Tanja,
den Blick starr nach vorne gerichtet und strich ihr behutsam mit der Hand durch
das lange, samtweiche Haar: „Sie ist der Grund, warum ich Polizist geworden bin.“
Tanja wischte sich die
Tränen von den Wangen: „Ich verstehe nicht ganz.“
Eine Welle an Gefühlen brach
über Stark herein. Er wusste nicht warum er über das Thema, das er so viele
Jahre tief in sich begraben hatte, überhaupt begonnen hatte zu sprechen: „Das Mädchen,
das du auf dem Foto gesehen hast, ist meine Zwillingsschwester. Kurz nachdem
das Foto aufgenommen wurde, ist sie verschwunden. Sie war mit ihrem Freund auf
einem Stadtfest. Das war der letzte Ort, an dem sie lebend gesehen wurden. Von
beiden fehlte plötzlich jede Spur. Das Auto ihres Freundes wurde Tage später im
See gefunden, unweit des Hauptplatzes, auf dem das Fest stattgefunden hatte.“
Was als Ablenkung für Tanja gedacht
war, um sie auf andere Gedanken zu bringen, lastete nun schwer auf seinen
Schultern. Aber irgendwie spürte Stark etwas in sich, das ihn darin
bekräftigte, zum ersten Mal darüber mit jemandem zu reden.
Stark kämpfte mit den Tränen:
„Alle Ermittlungen der Polizei verliefen im Sand. Es dauerte nicht lange, bis
beide für tot erklärt wurden.“
Stark ballte seine Hände zu
Fäusten: „Aber ich konnte mich damit nicht abfinden, es erschien mir zu
einfach. Also stellte ich selbst Nachforschungen an. Ich fand heraus, dass sie
in ihrem Innersten ein tief unglücklicher Mensch gewesen sein musste. Sie hatte
den Entschluss gefasst, mit ihrem Freund auszubrechen …“, ihm stockte er Atem,
„… nach Wien. Als mein Vater mir schließlich verbot weitere Nachforschungen
anzustellen, habe ich mich eines Nachts ohne Abschied auf den Weg nach Wien
gemacht.“
Tanja lauschte seinen Worten
gequält. Eine unglaubliche Traurigkeit machte sich in ihr breit. Ihr Herz war
voll Mitgefühl für den Mann, der ihr in so kurzer Zeit, so oft das Leben
gerettet hatte und nichts im Gegenzug dafür verlangte. Die durchgebrochene
Treppe, sowie auch der Ort an dem sie sich befand, waren für einen Moment lang
vergessen.
Stark fuhr fort: „Da ich
minderjährig war, suchte ich mir die erstbeste Absteige, die zum einem billig
war und wo zum anderem niemand Fragen stellte.“
„Ich glaube die kenne ich
jetzt“, grinste Tanja aufmunternd und entlockte Stark ein schmales Lächeln.
„Ich habe mir meinen
Unterhalt mit Gelegenheitsjobs am Fischmarkt und am Bau verdient, aber jede
freie Minute dem Verbleib meiner Schwester gewidmet.“
„Hast du sie gefunden?“,
fragte Tanja zögerlich.
„Nein, das habe ich nicht“,
in Starks
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